Brüssel

Auf ungewöhnlicher Wohnungssuche in Brüssel

Erwarte das Unerwartete: Das scheint das inoffizielle Motto der belgischen Hauptstadt zu sein – zumindest am Wohnungsmarkt. Ein Erfahrungsbericht unseres neuen Korrespondenten.

Auf ungewöhnlicher Wohnungssuche in Brüssel

Anna macht es spannend. „Sie wird um 10 Uhr vor dem Gebäude sein“, hatte mir Jerome geschrieben, der Makler. Weil er verhindert sei, werde Anna, die Mieterin, mir meine potenzielle Wohnung zeigen. Nach zehn langen Minuten öffnet sich endlich die Fahrstuhltür und eine große Frau mit braunem Haar und jugendlichem Gesicht tritt freundlich lächelnd ins Foyer. Seit zehn Jahren lebe sie in Brüssel, verrät Anna auf dem Weg nach oben. Wie ihr die Stadt gefalle, frage ich und freue mich auf eine Liebeserklärung an ihre Wahlheimat. Kein bisschen, entfährt es ihr, „es ist laut und dreckig“. Sie wolle nur noch raus aus der Stadt und ab aufs Land.

Erwarte das Unerwartete: Das scheint das inoffizielle Motto der belgischen Hauptstadt zu sein. Jedenfalls drängt sich dieser Eindruck bei einem Streifzug über den Wohnungsmarkt auf. Dass der nach eigenen Regeln tickt, dämmert einem schon mit Blick ins Steuerrecht: Der belgische Staat besteuert Mieteinnahmen nicht per se und setzt auch sonst hohe steuerliche Anreize zum Immobilienerwerb. Davon können Wohneigentümer hierzulande nur träumen. Kein Wunder, dass Belgier, die etwas auf sich und ihr Vermögen halten, jede Gelegenheit zum Kauf einer Wohnung oder eines Hauses nutzen – und dann vermieten.

Als ich mich im Spätherbst auf die Suche nach einer Mietwohnung mache, weiß ich von all dem noch nichts. Trotzdem hätte ich ahnen können, dass dies eine Wohnungssuche der besonderen Art wird. Ich solle einfach durch die Straßen ziehen und auf Hinweisschilder an Wohnungen und Häusern achten, raten mir Kollegen, die selbst mal in Brüssel gelebt haben. Ich grinse leise in mich hinein: Es gibt doch Immobilienportale im Internet. Wir sind schließlich im Jahr 2022.

Dort werde ich auch fündig. Allerdings laufen meine ersten Besichtigungen ernüchternd. Zig Interessenten schieben sich durch enge Flure in noch engere Apartments. Bewerbungsformular in die Hand, ausfüllen, abschicken, der Vermieter werde umgehend entscheiden. Eine Maklerin rät zu Gelassenheit: Bloß nichts überstürzen! Es ist doch erst November. Erst November? Im Januar will ich einziehen. Für Brüsseler Verhältnisse ist das offenbar eine halbe Ewigkeit. Unverrichteter Dinge ziehe ich von dannen.

Während ich durch Brüssel spaziere, fallen mir die vielen Werbetafeln und Hinweisschilder an Fenstern und Fassaden auf. „A LOUER“, rufen sie mir stumm zu, als ich verschiedene Ecken der Hauptstadt erkunde: Zu vermieten. Dazu ein Name und eine Telefonnummer, mehr nicht. Einfach anrufen.

Als ich zweieinhalb Wochen später einen neuen Anlauf nehme, kommt mir einer dieser Hinweise wieder in den Sinn. Ich hatte ihn in einem Schaukasten vor einem Apartmentgebäude im Europaviertel wahrgenommen. Im Internet kann ich die Wohnung auf keinem der einschlägigen Immobilienportale finden. Hatten es meine Kollegen nicht prophezeit? Viel Hoffnung habe ich trotzdem nicht: Seit ich die Annonce vor Ort zur Kenntnis genommen habe, ist viel Zeit verstrichen. Ich wähle die angegebene Nummer. Jerome meldet sich. Doch, doch, die Wohnung ist noch zu haben. „Wann haben Sie Zeit?“

Als Anna schließlich die Wohnungstür öffnet, bin ich angetan. Das Ein-Zimmer-Apartment macht einen guten Eindruck, die letzte Renovierung kann nicht lange her sein. Auf dem Sofa sitzt eine junge Frau, die ungefähr im gleichen Alter sein muss wie Anna. Klar, denke ich mir, Anna hat sich zur Sicherheit eine Freundin zur Besichtigung dazu geholt. Sie erklärt mir, dass sie ihrer Tochter zuliebe immer noch im verhassten Brüssel lebt, bis die mit ihrem Studium fertig ist. Dabei deutet sie auf die Frau auf dem Sofa.

Nicht meine letzte Überraschung. Die folgt, als ich nach der Besichtigung Jerome bitte, Kontakt zum Vermieter herzustellen. Nichts leichter als das: Der Vermieter sei sein Bruder Stéphane, lässt Jerome wissen. Der ist Inhaber einer Immobilienfirma – also vom Fach.

Ich bin ohnehin überzeugt. Schließlich hat Anna in höchsten Tönen von ihrem Vermieter gesprochen. Der kümmere sich immer zuverlässig, wenn es Probleme gebe. In Brüssel ist das nicht selbstverständlich, wie ich gehört habe. Und auch sonst hatte Anna noch eine gute Nachricht: Zumindest hier im Europaviertel, da habe sie sich stets wohlgefühlt.