Welthandelsorganisation

Auf Wiedervorlage

Die Verschiebung des WTO-Gipfels gibt den Mitgliedern der Welthandelsorganisation einen letzten Aufschub, um doch noch Handlungsfähigkeit zu zeigen.

Auf Wiedervorlage

Es gilt als das Herzstück der Welthandelsordnung, doch das lebenswichtige Organ für den regelbasierten Austausch von Waren und Dienstleistungen schlägt mit halber Kraft: Seit nunmehr zwei Jahren ist das Schiedsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) teilweise lahmgelegt. Der Grund ist die Blockadehaltung der US-Regierungen, der neuen wie der alten. Unnachgiebig verhindern sie die Nachbesetzung von Richterstellen für die Berufungsinstanz – mit der Folge, dass das Schiedsgericht der WTO Handelskonflikte nicht mehr final schlichten kann.

Stillstand prägt auch die Verhandlungen über eine Freigabe von Patenten für Impfstoffe gegen das Coronavirus. Den Vorstoß haben Indien und Südafrika im zuständigen WTO-Forum vor einem Jahr lanciert. Seit dem Frühjahr liegt ein Gegenvorschlag der EU-Kommission, die eine Patentfreigabe kategorisch ablehnt und auf mildere Mittel zum Schutz des geistigen Eigentums dringt, auf dem Tisch. Seitdem belauern sich beide Lager. Ein Kompromiss zeichnet sich bis heute nicht ab – mit der Folge, dass die Zweiklassengesellschaft beim Zugang zu Impfstoffen mutmaßlich Mutationen des Coronavirus Vorschub geleistet hat.

Es ist vor diesem Hintergrund eine bittere Pointe, dass ausgerechnet die bedrohlichste dieser Mutationen – Omikron – dem WTO-Sekretariat keine Wahl gelassen hat, als in letzter Minute den für diese Woche geplanten WTO-Gipfel zu verschieben. Mit Omikron ist jenes Szenario für die Weltwirtschaft eingetreten, vor dem WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala und andere Organisationen wie der Internationale Währungsfonds seit Monaten gewarnt haben, um Regierungen und Impfstoffhersteller in die Pflicht zu nehmen. Offensichtlich erfolglos. Die mit großen Erwartungen verbundene WTO-Ministerkonferenz, das wichtigste Entscheidungsgremium der Welthandelsorganisation, soll nun dem Vernehmen nach Anfang März in Genf stattfinden. Sofern die Pandemie es zulässt.

Die zusätzlichen drei Monate werden nicht reichen, um die WTO aus ihrer Existenzkrise zu führen. Dafür sitzen die Probleme zu tief, und es sind schlicht zu viele. Der Aufschub könnte aber ausreichen, um im Frühjahr zumindest ein dringend notwendiges Lebenszeichen zu senden. Seit mehr als 20 Jahren verhandeln die 164 Mitgliedstaaten der WTO über ein Abkommen, das Subventionen für umweltschädliche Fischerei kappen und so dem Überfischen der Weltmeere Einhalt gebieten soll. Es ist das einzige Gebiet, auf dem es zuletzt substanzielle Fortschritte gegeben hat.

Die Liste an Themen, die in einer Endlosschleife auf Wiedervorlage kommen, wird länger und länger. Die Regeln für den Handel mit Dienstleistungen stammen aus der Internet-Steinzeit. Maßgaben für den grenzüberschreitenden Austausch von Daten gibt es nicht. Die Handhabung von Industriesubventionen und Staatsunternehmen ist lückenhaft. Bestrebungen, neben der Fischerei auch die Landwirtschaft nachhaltiger auszurichten, stocken. Überhaupt: Für Klimabelange sind die WTO-Regeln bislang weitgehend blind. Stattdessen ziehen neuartige Handelskonflikte herauf: Indem die Europäische Union mit Alleingängen zu einer CO2-Grenzsteuer und Menschenrechtsklauseln für Importe ihren Markt abschottet, provoziert sie Widerstand. Ganz zu schweigen davon, dass eine frische Agenda ambitionierter Handelsliberalisierungen seit 20 Jahren auf sich warten lässt.

Baustellen gibt es also genug für die WTO. Von überragender Bedeutung bleiben aber eine Reanimation der Streitbeilegung und eine Einigung im Impfstoff-Streit samt Vorkehrungen für einen reibungslosen Handel mit Medizinprodukten. Daran muss sich die WTO messen lassen. Die Blockade des Schiedsgerichts erodiert das Vertrauen vieler Unternehmen nicht zuletzt in der Exportnation Deutschland in den regelbasierten Welthandel. Diese Woche haben die USA zum 48. Mal das Anliegen der übrigen WTO-Mitglieder abgeschmettert, den Prozess zur Nachbesetzung vakanter Richterposten in Gang zu setzen. Sie stoßen sich an der Länge der Verfahren und der Machtfülle der Schiedsrichter, eine Reform scheint unumgänglich. Im Konflikt über Impfstoff-Patente haben sich die USA im Sommer zwar überraschend bewegt. Doch ihr ebenso unerwartetes wie durchsichtiges Manöver, Schwellen- und Entwicklungsländer in deren Anliegen zur Patentfreigabe zu unterstützen, hat bloß die Europäer vor den Kopf gestoßen, statt die Spaltung innerhalb der WTO zu überwinden. Gelingt hier bis zum Frühjahr keine gesichtswahrende Lösung, die einen Beitrag zur Überwindung der Pandemie leistet, wird sich die WTO in den Augen einer breiten Öffentlichkeit überflüssig gemacht haben.

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