Belgiens wilder Osten
Notiert in Brüssel
Belgiens wilder Osten
Von Detlef Fechtner
Manchmal ist vom zweisprachigen Belgien die Rede. Das ist natürlich falsch oder zumindest unsauber: Belgien kennt drei Amtssprachen: Französisch, Niederländisch – und Deutsch. Wenn sich das Staatsoberhaupt – die einen sagen Koning Filip, die anderen Roi Philippe und wiederum andere König Philippe – kurz vor Weihnachten an das belgische Volk richtet, so wünscht er nicht nur „Joyeux Noël“ und „Vrolijk kerstfeest“, sondern auch ein „Schönes Weihnachtsfest“. Und wenn der Fernzug in der Hauptstadt einfährt, werden die Reisenden sogar auf vier Sprachen über den nächsten Halt informiert: Bruxelles Nord, Brussel Noord, Brüssel-Nord, Brussels North. Hand aufs Herz: Diejenigen, die die Station beim ersten Mal nicht verstanden haben, denen werden auch die Übersetzungen nicht viel helfen. Schließlich wird die Ansage oft von Schaffnern mit hartem eifeldeutschem Akzent gemacht.
Ein winziger Teil des Landes
Die deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien ist zwar nur ein winziger Teil des Landes – mit 79.000 Einwohnern ist die „DG“ ziemlich genauso groß wie Marburg und macht weniger als sieben Promille der belgischen Bevölkerung aus. Den Ostbelgiern scheint das allerdings recht schnurz zu sein. Sie strahlen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein aus – und die Überzeugung, ein sehr bedeutender Teil Belgiens zu sein. Die spiegelt sich allein schon in dem Umstand wider, dass Belgiens wilder Osten über eine eigene Regierung verfügt: einen Ministerpräsidenten und drei Minister. Mit durchaus wichtigen Ressorts, wie Unterricht, Beschäftigung oder Gesundheit. Auch betreiben die Deutschsprachigen mit dem öffentlich-rechtlichen Belgischen Rundfunk BRF zwei Radio- und ein Fernsehprogramm.
Eine eigene Außenpolitik
Und ja, es gibt sogar eine eigene ostbelgische Außenpolitik. Denn in Art. 130 gesteht die belgische Verfassung dem Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Zuständigkeiten in der internationalen Zusammenarbeit zu. Besonders aktiv wurden in den vergangenen Jahrzehnten die Beziehungen zum Großherzogtum Luxemburg gepflegt. Zwischenzeitlich machten sogar Spekulationen die Runde, dass Ostbelgien – falls der Nationalstaat Belgiens eines Tages zerreißen sollte – versuchen würde, sich nicht Frankreich, den Niederlanden oder Deutschland anzuschließen, sondern Luxemburg.
Klein und groß
Auch wenn das Räuberpistolen sind, so spiegeln sie doch einen wahren Punkt wider: Die Menschen rund um Eupen, Malmedy und Sankt Vith fühlen sich Gebietskörperschaften besonders verbunden, die ebenfalls zu den Kleinen zählen, sich aber durchaus Großes zutrauen. Eine Geisteshaltung, die besonders eindrucksvoll in einer Anekdote des langjährigen luxemburgischen Premiers Jean-Claude Juncker zum Ausdruck gekommen ist. Als er, so erzählte Juncker einmal, 2012 nach China gereist sei, habe er zum damaligen chinesischen Premier gesagt: „Genosse Wen, wenn man so bedenkt, dass wir beide, also du und ich, über ein Fünftel der Menschheit herrschen!“