Ruf der Wildnis
Ruf der Wildnis erreicht Konzernzentralen
Der Schutz der Biodiversität ist nicht nur ein modisches Anlagethema. Unternehmen müssen bald über ihren Beitrag dazu Rechenschaft ablegen.
von Andreas Hippin, London
Das Thema Biodiversität hat das Zeug, das nächste große Ding für die Finanzbranche zu werden. Noch ist die Lage unübersichtlich, vor allem wenn es darum geht, was von Unternehmen erwartet wird. Wie zum Thema Klimaschutz gibt es auch zum Artenschutz multilaterale Abkommen. Karrierebeamte jetten um die Welt, um sie auszuhandeln. Die Biodiversitätskonvention wurde schon 1992 auf dem "Erdgipfel" in Rio angenommen und trat 1993 in Kraft. Zur Jahrtausendwende folgte das Cartagena-Protokoll, 2010 das Nagoya-Protokoll und die „Aichi-Ziele“ für den globalen Artenschutz. Doch vor drei Jahren stellte man fest, dass kein einziges der 20 Ziele, die man sich 2010 gesetzt hatte, erreicht wurde.
Kein weiteres Jahrzehnt verschwenden
Im vergangenen Jahr einigte man sich auf den Globalen Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal, mit dem 23 Ziele formuliert wurden. „Wir haben kein weiteres Jahrzehnt, das wir darauf verschwenden können“, sagte der britische Autor und Aktivist Tony Juniper, der 2019 vom damaligen Umweltminister Michael Gove zum Chairman von Natural England gemacht wurde. Er sprach auf der Konferenz „Nature Calls!“ der Schweizer Privatbank UBP (Union Bancaire Privée) in London. Das Institut hatte Wissenschaftler, Unternehmensvertreter und Investoren eingeladen, um das Thema gemeinsam zu diskutieren.
Parallelen zum Klimawandel
Jetzt gehe es darum, Fortschritte zu machen und zu hoffen, dass es möglichst viele Leute nachmachen, sagte Juniper, der Bücher wie „Was die Natur für Großbritannien tut“ geschrieben hat. Es gebe Parallelen zum Klimawandel. Bei diesem Thema konzentriere man sich auf fossile Brennstoffe. Wenn man Biodiversität in den Blickpunkt rücken wolle, sei das weltweite Ernährungssystem „das große Ding“. Es ist allerdings noch komplexer als die Erderwärmung.
EU als Vorreiter
Der Ruf der Wildnis erreicht zunehmend die Konzernzentralen. In der EU trat Anfang des Jahres die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD) in Kraft. Binnen 18 Monaten soll sie von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Sie führt die „doppelte Wesentlichkeit“ ein. Firmen werden dazu verpflichtet, sowohl über die Auswirkungen ihres Geschäftsbetriebs auf Mensch und Umwelt als auch über die Auswirkungen von „Nachhaltigkeitsaspekten“ auf das Unternehmen zu berichten. Die Nachhaltigkeitsberichterstattung muss künftig ebenso extern geprüft werden wie die Finanzberichterstattung. Die Standards dafür werden von der EU-Kommission festgelegt.
Freiwillige Berichterstattungsrahmen
Darüber hinaus gibt es freiwillige Berichterstattungsrahmen, etwa von der 2020 gegründeten Taskforce on Nature-related Financial Disclosures (TNFD). Assetmanager wie Scottish Widows haben sich bereits dafür ausgesprochen, den TNFD-Rahmen rechtsverbindlich zu machen. Allerdings zeigt die britische Regierung kein großes Interesse an einer Modernisierung von Corporate Governance und Berichterstattungspflichten. In Frankreich wurden Finanzdienstleister im Mai 2021 gesetzlich dazu verpflichtet, Klima- und Biodiversitätsrisiken offenzulegen. Dabei wurde bereits das Konzept der „doppelten Wesentlichkeit“ verwendet. Zudem müssen die Firmen eine Strategie zur Reduzierung negativer Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf die Biodiversität vorlegen.
Teil des Kerngeschäfts
„Das ist gewiss eine Menge Berichterstattung“, sagte David Croft, Global Director Sustainability, Environment & Human Rights beim Konsumgüterhersteller Reckitt. „Man muss anfangen, anders darüber nachzudenken, was die Natur für ein Geschäft bedeutet. Wir haben keine Nachhaltigkeitsstrategie. Unsere Geschäftsstrategie ruht auf Säulen der Nachhaltigkeit.“
Um das messbar zu machen, arbeite man mit Forschern der Universität Oxford zusammen. Dem Unternehmen gehe es dabei nicht nur um Klima und Biodiversität, sondern auch um die Auswirkungen auf das Leben der Kautschukproduzenten, die den Rohstoff für seine Durex-Kondome liefern. Man sei in der Beschaffung von einem Commodity-Modell auf ein Modell umgestiegen, in dem es um die Stabilisierung der Versorgung gehe.
"CSR ist tot"
„Früher hätte man das getan, um eine nette Geschichte zum Thema Corporate Social Resposibility (CSR) erzählen zu können“, sagte Croft. „CSR ist tot. Das sind heute Diskussionen über das Kerngeschäft.“ Man müsse sich mit den Bauern ins Benehmen setzen. Wenn man ihnen keine Prämie zahle, hätten sie keinen Grund, in ihre Plantagen zu investieren. Reckitt arbeitet mit der Fair Rubber Association zusammen. Wenn man eine neue Fabrik in Indien plane, gehe es in den Gesprächen nicht nur um Infrastruktur, sondern auch darum, wie an dem Standort die Wasserversorgung in 25 Jahren aussehen wird.
Korkproduzent als Vorzeigeunternehmen
Natürlich hat nicht jeder ein so nachhaltiges Geschäft wie der portugiesische Korkproduzent Corticeira Amorim. Das Material sei ein „wahres Geschenk der Natur“, sagte Ana Negrais de Matos, Head of Investor Relations bei der börsennotierten Gesellschaft. Bis zur ersten Ernte müsse man 25 Jahre warten. Dann könne man alle neun Jahre die Rinde der Korkeichen ernten. Korken sind nach wie vor das Kerngeschäft des Unternehmens, doch gebe es eine Menge anderer Einsatzmöglichkeiten. Seit den 1960er-Jahren basiere die Produktion auf dem Prinzip, keinen Kork zu verschwenden. Selbst Korkstaub werde wiederverwendet. Zwei Drittel der Energie stammten aus Biomasse.
Daten im Fokus
Und wie belegt man, dass das eigene Geschäft der Biodiversität nicht schadet? Wie bei allen anderen ESG-Themen gibt es bereits eine Reihe von Datenanbietern. In manchen Jurisdiktionen werden bereits belastbare Daten verlangt. Doch lassen die verfügbaren Daten in vielerlei Hinsicht noch zu wünschen übrig. "Es gibt keine perfekten Impact-Kennzahlen", sagte Ray Dhirani, Head of Impact Management bei Tribe Impact Capital. "Wenn ihnen jemand etwas anderes erzählt, lügt er."
Grundannahmen entscheidend
Eine zentrale Kennzahl ist Mean Species Abundance (MSA). Sie vergleicht das Vorkommen von endemischen Arten in Ökosystemen zu deren geschätzten Vorkommen im selben Ökosystem, wenn dieses noch intakt wäre. Wie unschwer zu erkennen ist, hängt die Qualität solcher Daten stark von den zugrundeliegenden Annahmen ab. Immerhin, das auf der Konferenz vorgestellte Projekt SEED der ETH Zürich berücksichtigt in seinem Biokomplexitätsindex auch Mikroben.
Warten auf Guidance
"Wir brauchen wirklich spezifische, ortsbezogene Daten", sagte der UBP-Portfoliomanager Charlie Anniss. MSA spiegele nur ein Element von Biodiversität wider. Er warte auf branchenspezifische Handreichungen und mehr Guidance zu den Kennziffern. Noch sei man ein gutes Stück davon entfernt, Biodiversität bei Anlageentscheidungen einpreisen zu können. Doch er zeigte sich optimistisch, was das Ziel angeht: "Nur weil man es nicht messen kann, heißt das ja nicht, dass man keine Fortschritte macht", fügte er hinzu.
Das Engagement für Biodiversität bringt derzeit keine großen Kursgewinne. Das sieht man nicht nur am Kurs von Amorim, sondern auch an der Entwicklung vieler Biodiversitätsfonds. Ein gutes Gewissen kann darüber hinweghelfen.
Korkeichen: Der Korkproduzent Amorim ist ein Musterunternehmen in Sachen Nachhaltigkeit.