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Standortmagnet Liquidität

Seit dem Brexit sind die Städte Amsterdam und Paris Heimat der großen außerbörslichen Plattformen Turquoise, Aquis und CBOE Europe. Die dort gebündelte Liquidität steigert die Attraktivität der Plätze gegenüber Frankfurt – gerade auch für neue Emittenten.

Standortmagnet Liquidität

Als die europäische Börsenaufsicht kürzlich die Verschiebung der Gewichte im Aktienhandel nach dem Brexit beleuchtete, war das Ergebnis für die Stakeholder keine Überraschung: Vom Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Gemeinschaft profitierten in hohem Maße die Börsenplätze Amsterdam und Paris, Frankfurt nur gering. Grund ist, dass sich in Amsterdam und Paris das Gros des zuvor in London abgewickelten Handels über sogenannte MTF-Plattformen (Multilateral Trading Facilities) konzentriert, die den Volumina an diesen beiden Plätzen zu einem Quantensprung verholfen haben. Vor dem Brexit entfielen auf 30 dieser Plattformen in Großbritannien – von 122 in der damaligen EU insgesamt – 93% des MTF-Handelsvolumens. Danach zeigte sich schon 2022 der große Swing: 95% des MTF-Handels in der EU entfallen nun auf drei Länder, allerdings nur 9% auf Deutschland, dagegen 57% auf die Niederlande und 29% auf Frankreich.

Zuwachs mit Faktor 633

In Handelsvolumina heißt das konkret, dass sich die Umsätze in Amsterdam von zuvor 3,5 Mrd. Euro um den Faktor 633 auf 2,2 Bill. Euro erhöht haben. In Paris ging es von 11,6 Mrd. Euro auf 1,4 Bill. Euro. Zu einer ähnlich dramatischen Verschiebung ist es an den regulierten Märkten nicht gekommen, dort bewahrten Frankreich und Deutschland mit 24% bzw. 20% der Volumina ihre dominierende Position vor den Niederlanden mit 12%. Triebfeder der Entwicklung bei den MTF ist der „Umzug“ der wichtigsten dieser Plattformen, der zur London Stock Exchange (LSE) gehörenden Turquoise, CBOE Europe und der ebenfalls britischen Aquis Exchange, die ihre Präsenz in London behalten, aber Dependancen in Amsterdam bzw. Paris geschaffen haben, um ihre Handelsaktivitäten zu schützen. Die drei Börsenbetreiber LSE, CBOE und Euronext wahren auf diese Weise ihre Stellung als die größten paneuropäischen Handelsplattformen, die an einem gewöhnlichen Handelstag in der Regel jeweils rund 20% der Umsätze auf sich gezogen haben. Bei der Deutschen Börse sieht man die Entwicklung mit Gelassenheit, nicht zuletzt, weil Umsatz und Ertrag im eigenen Geschäft davon nicht so weit nachteilig beeinflusst war, dass das Unternehmen selbst zur Gänze in den Rückwärtsgang geschaltet hätte. Gleichwohl fällt auf, dass die Gruppe in den ersten neun Monaten insbesondere Erlöseinbußen bei Aktien (−33%) und Aktienderivaten (−10%) bzw. Wertpapierhandel insgesamt (−18%) hinnehmen musste. Die rückläufigen Geschäftsfelder standen dabei für rund ein Drittel der Gesamteinnahmen.

Jenseits begrenzter unmittelbarer geschäftlicher Einflüsse sollten weder die Deutsche Börse noch andere Stakeholder die Entwicklung aus Sicht des Finanzplatzes nur mit einem Achselzucken bedenken. Denn dass andere Standorte in Europa die drei umsatzstärksten MTF-Plattformen auf sich verteilen und damit erhebliche Liquidität im Handel auf sich ziehen konnten, ist für die Entwicklung des Finanzplatzes kein Menetekel, aber auch ganz sicher kein gutes Zeichen.

Börse gelassen

Denn das Thema hat Weiterungen, vor allem bei Aktien. Franz-Josef Leven, stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Aktieninstituts, erklärt, dass „Liquidität eine Magnetwirkung hat“. Dennoch solle man „nicht so sehr auf die reinen Börsenumsätze schauen, weil für die Wettbewerbsfähigkeit eines Finanzplatzes viele Faktoren wichtig sind“. Die Magnetwirkung gilt indes für alle bestehenden Marktteilnehmer ebenso wie für bestehende und nicht zuletzt neue Emittenten. Gleichwohl sei für den Finanzplatz zum Beispiel wichtig, dass „ein steter Nachschub an börsennotierten Aktien besteht und dass dieser Nachschub in Deutschland an deutschen Börsen notiert wird“. Der in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit häufig beobachtete Trend, dass IPO-Kandidaten für ihr primäres Listing nicht Frankfurt wählen, sondern auf Börsenplätze außerhalb Deutschlands ausweichen, sei „sehr bedauerlich“.

Und mit Blick auf jüngste Signale von milliardenschweren Start-ups wie Flix oder Celonis – wo die Anteilseigner nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges in einem äußerst volatilen, mitunter eisigen Börsenklima ihren erhofften Exit per IPO verschieben mussten –, dass sie für eine attraktive Bewertung eher die Nasdaq ins Auge fassen, sieht es so aus, als ob zumindest der IPO-Boom des Jahres 2021 aus dem Start-up-Lager sich hierzulande so schnell nicht wiederholt.

„Dabei spielt in Deutschland natürlich auch die Ausgestaltung des Aktienrechts eine Rolle“, betont Leven. Dieses sei „für junge Unternehmen beispielsweise auch in den Niederlanden deutlich positiver gestaltet, als das bei uns der Fall ist“. Der Kapitalmarktexperte spielt dabei zum Beispiel auf Mehrfachstimmrechte an, mit denen sich junge Gründer „einen gewissen Einfluss auf ihr Unternehmen erhalten können, auch wenn ein Börsengang die Anteile verwässert“, oder auch auf die steuerliche Behandlung von vor dem Börsengang erworbenen Mitarbeiteraktien beim späteren Verkauf. Dass der Gesetzgeber „dort jetzt mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz Hand anlegt, begrüßen wir ganz ausdrücklich“. Über Jahrzehnte, so Leven, ging hier praktisch gar nichts voran. Allerdings räumt er ebenfalls ein: Neben dem Aktienrecht sei die Markttiefe und Liquidität eines Börsenplatzes „ebenfalls ein wichtiges Kriterium für die Wahl des Börsenplatzes“.

Weiterungen für Aktien

Es ist nicht nur so, dass die Kapitalnachfrage durch neue oder auch bestehende Emittenten am Aktienmarkt – also IPOs oder auch Kapitalerhöhungen – hierzulande „dürftig“ ausgeprägt ist, sondern es fehlt auch das Kapitalangebot. „Es fehlt an großen Pensionsfonds, wie sie vor allem im angelsächsischen Raum vorhanden sind“, die maßgeblich in Aktien investieren. Zwar gelingt es insbesondere bei Tech-IPOs hierzulande oft, genügend Kapital ausländischer institutioneller Investoren zu mobilisieren, aber die geringe Liquidität der neuen Werte an der heimischen Börse ist ein, wenn auch sicher nicht der einzige Grund, warum die Kursentwicklung so mancher Börsenneulinge hierzulande so wenig glanzvoll verlaufen ist. Dabei mag generell ein mitunter geringer Streubesitz eine Rolle spielen, aber eben nicht immer und nicht nur.

Kapitalnachfrage dürftig, Angebot knapp

Nicht unerklärlich

Hohe Börsenumsätze spiegeln einen liquiden Handel und sind für Marktteilnehmer daher naturgemäß auch ein Qualitätsmerkmal. Dass sich Turquoise und CBOE Europe infolge des Brexit für Amsterdam als Dependance entschieden haben und Aquis für Paris, ist für den hiesigen Finanzplatz unerfreulich, wenn auch nicht unerklärlich. „Da spielt eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt auch ganz einfach eine größere räumliche Nähe dieser Standorte zum Mutterhaus in London“, erklärt Leven – eine Einschätzung, die die Deutsche Börse teilt. Hinzu kommt die Eigentümerstruktur. Mit Ausnahme der Deutschen Bank gehören mit Goldman Sachs, Merrill Lynch, Morgan Stanley und Citigroup allein vier US-Schwergewichte zu den Gründern von Turquoise, darüber hinaus BNP Paribas und Société Générale sowie die eher frankophile Schweizer UBS und damals auch Credit Suisse, wobei alle Investmentbanken auch eine angelsächsische Mentalität teilen, die sie noch am ehesten in Amsterdam wiederfinden. Dies auch deshalb, weil es dort praktisch keine Sprachbarrieren gibt. Englisch spricht in Amsterdam jedes Kind. Nicht nur an Gesetzen, auch an Internationalität darf hierzulande also noch gearbeitet werden.

Standortmagnet Liquidität

Die Verlagerung großer Handelsvolumina zu den Plätzen Amsterdam und Paris verdient am Finanzplatz mehr als Achselzucken

Von Heidi Rohde, Frankfurt
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