Große E-Commerce-Schlacht wird zum Ärgernis
Wie Temu, Shein & Co. die Händler verärgern
Chinesische E-Commerce-Riesen ringen verzweifelt um Marktanteile. Der aggressive Preiswettbewerb hat unschöne Nebenwirkungen.
Von Norbert Hellmann, Schanghai
Seit Juli geht es am Hauptsitz der erfolgreichen E-Commerce-Plattform Temu in der südchinesischen Metropole Guangzhou besonders heiß her. Mehrfach haben sich Hunderte der Plattform angeschlossene chinesische Händler zu Protesten gegen ausbeuterische Praktiken des in den USA und Europa blitzschnell zu einem ernsten Konkurrenten für Amazon avancierten E-Commerce-Betreibers eingefunden.
Trubel bei Temu
Der Anlass für die Aufregung mag wie eine Petitesse wirken. Es geht darum, dass Temu – der internationale Arm des Onlinehandelsriesen Pinduoduo – Shop-Betreibern auf der Plattform undurchsichtige Strafen für angebliche Produktqualitätsmängel aufbrummt, die bereits schmal gehaltene Profite völlig abzuwürgen drohen. Temu begründet die Aktion mit Qualitätsmängeln, die sich aus Kundenfeedback ergeben hätten. Die Händler betonen, dass die gleichen Produkte, die sie auf anderen Plattformen anböten, keine Beanstandung fänden.
Zwang zur Preisunterbietung
Das Dilemma für die Händler ist, dass sie bei Temu höheren Kunden-Traffic generieren können, aber immer weiter gezwungen werden, Marktpreise zu unterbieten, um ihren Shop auf der Plattform zu halten beziehungsweise durch die Temu-Algorithmen von den App-Nutzern überhaupt wahrgenommen zu werden. Temu ist das Paradebeispiel für das sogenannte Full-Consignment-Modell: Die Plattform kontrolliert jeden einzelnen Schritt vom Marketing bis zur Versendung von Waren. Dabei werden ultraniedrige Preise diktiert, die Kundenzulauf bringen sollen, ohne für Verkaufserfolge und Inventarüberschuss ins Risiko zu gehen. Die Haftung für echte oder vermutete Qualitätsprobleme wird auf die Händler überwälzt.
Lieferketten-Champion
Die Proteste bei Temu werfen ein Schlaglicht auf Geschäftsmethoden, die Chinas führende E-Commerce-Konzerne mit atemberaubenden Billigangeboten auftreten lassen, die den Motor für ihre Expansion abgeben. Newcomer wie der Allesanbieter Temu und die auf Modeartikel konzentrierte Plattform Shein werden gestrafft, radikalisiert und mit großem Erfolg auf die internationale Bühne übertragen. Die Tech-Firmen haben einen Weg gefunden, westliches Publikum an die weltweit ihresgleichen suchende industrielle Produktionsstruktur und Lieferkettenlogistik in China anzubinden und damit auch Adressen wie Amazon und Ebay ins Schwitzen zu bringen.
Deflationssorgen
Seitens der chinesischen Regierung sieht man der Sache mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu. Auf der einen Seite leisten die internationalen Aktivitäten der großen Shopping-Plattformen einen hochwillkommenen Beitrag zu Chinas Außenhandelsdynamik. In einem Jahr mit besonderen konjunkturellen Herausforderungen erweist sich die robuste Exportwirtschaft als wichtiger Stabilisator für das Wachstum. Auf der anderen Seite jedoch leidet die chinesische Wirtschaft unter einem latenten Deflationsproblem, das durchaus Verbindungen zu Praktiken im heimischen Onlinehandel aufweist.
Zum Platzhirsch Alibaba mit seinen Plattformen Taobao und Tmall und JD.com haben sich mit Pinduoduo und Douyin, also der chinesischen Version des Videodienstes von Tiktok, extrem starke Konkurrenten hinzugesellt, die Social Media mit E-Commerce verbinden. Letztere sind die Anheizer eines drastisch verschärften Preiswettbewerbs, mit dem die Tech-Firmen in einer geschwächten Konsumkonjunktur Wachstum zu generieren versuchen.
Race to the Bottom
Auch renommierte Markenanbieter wie der Kosmetikriese L’Oréal befinden sich im Zwiespalt. Sie versuchen sich über Live-Streaming-Events stärker auf Pinduoduo und anderen Billigkanälen zu etablieren, landen zu ihrem Kummer aber auch mit ihren eigenen Shops auf JD.com und Alibabas Tmall verstärkt in der Discount-Schleife mit Zwang zu Rabattaktionen und Bestpreis-Garantien. Analysten sprechen vom „Race to the Bottom“, also einem Unterbietungswettlauf, der eine Rückbesinnung erfordert, um die Profitabilität des Onlinehandels aus der Sicht von Plattformbetreibern wie auch Produktanbietern nicht übermäßig zu gefährden.
Harte Probe
Die jüngsten Entwicklungen in Chinas Konsumlandschaft stellen die Geschäftsmodelle der führenden Plattformbetreiber auf eine harte Bewährungsprobe und lassen über einen Strategiewandel nachdenken. Den traditionellen Onlinehändlern Alibaba und JD.com ist es nach längerer Durststrecke wieder gelungen, auf mittlere einstellige Umsatzzuwächse zu kommen. Dies aber nur, weil man in dem von Pinduoduo und Douyin maßgeblich befeuerten Preiswettbewerb nun auch mit stärkerem Fokus auf markenlose Billigprodukte mitzuhalten versucht.
Strategischer Konflikt
Insbesondere bei Alibaba sieht man negative Auswirkungen auf die Profitmargen. Auf strategischer Ebene kompromittiert das Low-Cost-Schlachtfeld die Bemühungen der letzten Jahre, sich in der Konsumwertschöpfungskette mit margenträchtigen Premium-Produkten weiter hochzuhangeln. Nun aber gilt es im Billigsegment irgendwie mitzuhalten, um Marktanteilsverluste zu begrenzen. An der Börse halten die Anleger bei Alibaba den Daumen aber weiter nach unten.
Achtung Reizüberflutung
Bezeichnenderweise beginnen Chinas Verbraucher auf die sensorische Überreizung durch Rabattschlachten negativ zu reagieren. Sie erfordern einen gewaltigen Einsatz zum rechtzeitigen Abgreifen von Schnäppchen und der Teilnahme an Livestreaming-Sessions. Eine gewisse Ermüdung ist erkennbar. Die jüngste Auflage des Online-Shopping-Festivals „618“, dessen Höhepunkt auf den 18. Juni fällt, gibt Aufschluss. Trotz des diesmaligen Riesenaufwands sank der Bruttowarenumschlag (Gross Merchandise Value) um 7% zum Vorjahr.
US-Klientel schlägt zu
In den USA sorgen chinesische Ableger wie Temu, Tiktok Shop oder Aliexpress für einige Begeisterung bei den Verbrauchern. Sie sind vor allem für nicht essenziellen Konsum, sprich Schnickschnack, nur zu gerne bereit, nach sensationellen Billigangeboten zu greifen, und sehen es als nette Ergänzung zu Amazon oder dem Onlinekanal von Walmart an. In Ländern mit zuletzt hohen Inflationsraten ist Billigkonsum via China zudem eine gewisse volkswirtschaftliche Entlastung.
Peking sieht genauer hin
In China selbst jedoch wird das Wettbewerbsverhalten der Onlinehändler kritischer gesehen. Man darf davon ausgehen, dass sich hinter den Kulissen Druck aufbaut, um eine Fortsetzung des Unterbietungswettlaufs zu verhindern. Nicht nur, weil die Regierung sensibel auf jedweden öffentlichen Aufruhr reagiert und sich den Fall Temu sicher noch anschauen wird. Pekings Wirtschaftsplaner befürchten längst, dass der Preiskampf bei E-Commerce nicht dazu beiträgt, das heimische Konsumklima aufzuhellen.