Chinas Industriepolitik steht am Pranger
Chinas Industriepolitik steht am Pranger
Das alte Streitthema Überkapazitäten lebt neu auf. Brüssel und Washington drohen mit Konsequenzen, wenn China versucht, westliche Märkte mit künstlich verbilligten Produkten zu überschwemmen. Einsicht auf Pekinger Seite gibt es freilich nicht.
Von Norbert Hellmann, Schanghai
Am Hafen von Taicang stehen Autos Schlange, um in neu erschlossene Exportmärkte verschifft zu werden. Das in der Nähe von Schanghai gelegene Taicang ist ein wichtiger Standort für deutsche Mittelstandsfirmen in China.
Kein Zweifel, im fortwährenden handels- und industriepolitischen Gerangel zwischen China und westlichen Wirtschaftsnationen hat sich eine neue Schärfe eingeschlichen. In den letzten Wochen ist das Thema Überkapazitäten zum übergreifenden Leitmotiv für ein offensiveres Auftreten in Berlin, Brüssel und Washington gegenüber Chinas Industriepolitik geworden.
Warnschüsse
Die ersten Warnschüsse sind gesetzt. US-Finanzministerin Janet Yellen hatte bei ihrem jüngsten Peking-Besuch chinesische Überkapazitäten und die Gefahr einer Exportschwemme zum Fokus ihrer Kritik an Chinas Wirtschaftspraktiken gemacht. Die US-Administration werde eine Flutung internationaler Absatzmärkte mit künstlich verbilligten Produkten grüner Technologie nicht zulassen.
EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager warnte neulich, dass sich Brüssel gegen unfairen Wettbewerb in Bereichen wie Elektromobilität, Solartechnik und Windenergie zur Wehr setzen wird. Nun startet die Kommission eine Untersuchung zu Subventionspraktiken bei Windturbinen, die sich zu bereits geplanten Verfahren gegenüber chinesischen Elektroautobauern hinzugesellt.
Scholz tritt in Aktion
In diesen Tagen liegt der Ball bei Bundeskanzler Olaf Scholz. Er ist auf China-Visite und bringt das Thema Überkapazitäten und Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen in China bei seinen Unterredungen mit Chinas Spitzenpolitikern zur Sprache. Die deutsche Position als mit Abstand wichtigster europäischer Handelspartner Chinas ist dabei besonders heikel.
Einerseits gilt es, Geschlossenheit im EU-Kreis zu vermitteln. Das heißt die Botschaft zu überbringen, dass Brüssel handelspolitische Schutzmechanismen verschärft, wenn Peking nicht zur Beendigung diskriminierender Geschäftspraktiken bereit ist. Andererseits würde Deutschlands Wirtschaft im Falle eskalierender Handelskonflikte mehr leiden als die anderen großen EU-Nationen.
„Schwindeletikett“
In Chinas Staatsmedien reagiert man empfindlich auf die neue Schlagseite im wirtschaftspolitischen Dialog. Das Überkapazitätsnarrativ wird als Schwindeletikett zur Rechtfertigung von protektionistischen Avancen der USA und Europas bezeichnet. Es gehe darum, unter dem Banner fairen Wettbewerbs heimische Industrien zu schützen, die in Sachen Innovation, Produktionstechnik und Lieferketten gegenüber der chinesischen Konkurrenz in den Rückstand geraten seien. Dabei verweist man darauf, dass gerade im Bereich der Klimaschutzindustrie Unternehmen in den USA und Europa ihrerseits zahlreiche Subventions- und Förderungsmechanismen genießen.
Peking stellt sich taub
Peking lässt die Kritik eines systematischen Aufbaus von Überkapazitäten in den kritischen Bereichen seit jeher nicht gelten. Der Tenor lautet, dass die Produktionsausweitungen in Sektoren wie Elektroautos, Batterien, Solartechnik und Windkraft sehr wohl mit dem globalen Bedarf Schritt halten. Dabei wird vor allem argumentiert, dass nicht nur der Westen, sondern auch Schwellen- und Entwicklungsländer auf kostengünstige grüne Technologieprodukte angewiesen sind, um die Klimawende zu bewerkstelligen und CO₂-Ziele zu erreichen.
Bei der Auseinandersetzung mit Kennzahlen, die auf ein Überkapazitätsproblem hinweisen, stößt man auf eine gemischte Bilanz. Der Vogelblick auf industrielle Kapazitätsauslastungsraten in den USA, der EU und China lässt zumindest keine gravierenden Abweichungen erkennen. USA und Europa liegen praktisch gleichauf bei etwa 79%. China landet bei Werten zwischen 75 und 76%.
Die Abweichungen sind zu gering, um daraus einen Vorwurf abzuleiten, dass Chinas Industriesektor auf breiter Linie in eine Überproduktionssituation schlittert. Man kann aber feststellen, dass die Kapazitätsauslastung in China erstmals seit 2016 wieder zeitweilig unter die Marke von 75% ging.
Kreditschub
Setzt man durchschnittliche Inventarbestände in Chinas Industrie ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, sieht man einen fühlbaren Anstieg in den letzten Jahren. Allerdings liegt die Rate mit etwa 14% noch klar unter dem Niveau der letzten Dekade. Ein Blick auf Kreditströme wiederum verrät, wo das praktisch durchweg staatskontrollierte Bankensystem die Akzente zur Wirtschaftsankurbelung setzt. Während das Wachstum der gesamten Neukreditvergabe bei gut 10% liegt, zieht die Darlehensvergabe gegenüber Industrieunternehmen um mehr als 30% an, kommt aber im Immobiliensektor nicht vom Fleck.
Was aber ist mit den Sektoren, für die China wegen Subventionsexzessen und Überproduktion an den Pranger gestellt wird? In Bereichen wie der Solartechnik dürfte der Fall ziemlich klar sein. Ende vergangenen Jahres entsprach die jährliche Produktionskapazität für gefertigte Solarmodule einem Äquivalent von 861 Gigawatt, während die Stromerzeugungsleistung tatsächlich installierter Anlagen weltweit mit 390 Gigawatt bei weniger als der Hälfte lag.
Autobauer rechtfertigen sich
Beim Verband China Association of Automobile Manufacturers (CAAM) heißt es, die Auslastung von chinesischen Automobilwerken liege bei etwa 70%. Das sei immer noch eine gesunde Relation, an die sich keine Vorwürfe von gezielter Überproduktion knüpfen lasse. Außerdem seien Kapazitätsstilllegungsbemühungen im Gang, die die Auslastungsrate noch verbessern würden.
Aus westlicher Sichtweise lässt sich freilich eine andere Rechnung aufmachen. In den letzten Jahren sind in China Kapazitäten für die Produktion von 50 Millionen Autos mit Elektroantrieb oder Verbrennungsmotor entstanden. Die inländische Nachfrage absorbierte zuletzt 23 Millionen Pkw im Jahr. Damit bestehen riesige Produktionskapazitäten für Fahrzeuge, deren Nutzung nur langfristig über den Export von Fahrzeugen erfolgen kann.
Gefeierte Exporte
Die Exporterfolge chinesischer Autohersteller werden in heimischen Medien mit besonderem Stolz quittiert. Im vergangenen Jahr wurden 1,55 Millionen Fahrzeuge ins Ausland verschifft, ein Anstieg um fast zwei Drittel gegenüber Vorjahr. Der auf europäische Märkte entfallende Pkw-Export – mit Einrechnung von in China gebauten Tesla-Modellen – kletterte dabei um 47% auf gut 481.000 Fahrzeuge.
Schreibt man die Steigerungsraten in die Zukunft fort, wird schnell ersichtlich, dass man in Europa eine wettbewerbsgefährdende Exportschwemme insbesondere bei Elektroautos befürchtet. Im breiteren Kontext der Handelsbeziehungen mit China wird es allerdings schwieriger zu argumentieren, dass die drei von Chinas Wirtschaftsplanern besonders lebhaft und gezielt geförderten Industrien, nämlich Elektroautos, Batterien und Solarenergie, zu gefährlichen Verzerrungen beim Warenaustausch führen.
„Die neuen drei“
Die in China gerne als „die neuen drei“ bezeichneten Sektoren gelten als besonders wichtige Wachstumstreiber im binnenwirtschaftlichen Kontext. Sie haben im vergangenen Jahr einen um 30% gegenüber dem Vorjahr angewachsenen Exportwert von 1,06 Bill. Yuan (136 Mrd. Euro) verbucht. Das ist eine stolze Summe. Ihr Anteil an Chinas gesamter Exportleistung beträgt allerdings nur 4,5%.
Diese Relation muss man sich vor Augen halten, um Chinas Prioritäten im Konflikt rund um Überkapazitäten abzuschätzen. Ein verschärfter Handelsstreit mit Fokus auf die neuen drei würde Peking derzeit alles andere als gelegen kommen. Die tatsächliche Gefahr für Chinas Konjunkturdynamik an der Außenhandelsflanke reicht aber bei weitem nicht dazu aus, um Peking zu einer Zügelung von Industriesektoren zu veranlassen, die in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt längst als unverzichtbare Wachstumstreiber angesehen sind.