Notiert inSchanghai

Chinas Livestream-Legende am Abgrund

Der Influencer Austin Li gilt als Chinas König für Kosmetikaverkäufe im Internet. Jetzt hat ihn ein verbaler Fauxpas erledigt. China kennt steile Karrieren und tiefe Abstürze im Milliardengeschäft mit E-Commerce-Livestreams.

Chinas Livestream-Legende am Abgrund

Notiert in Schanghai

Stark verrutschter Lippenstift

Von Norbert Hellmann

Dummer Spruch – Kieferbruch! Die alte Türstehermaxime hat bei Chinas bekanntestem E-Commerce-Livestreamer Austin Li auf virtueller Bühne eingeschlagen. Man weiß noch gar nicht, ob es ihm überhaupt wieder gelingen wird, sich noch einmal aufzurappeln.

Bis vor kurzem war sein loses Mundwerk bei rasanter Redegeschwindigkeit und beeindruckender verbaler Schlagfertigkeit mitsamt geschicktem Einsatz von treuherzigen Augenaufschlägen eine absolute Wunderwaffe. Es geht um das Verticken von Konsumgütern über Livestream-Sendungen, die in Chinas E-Commerce-Welten einen herausragend wichtigen Absatzkanal abgeben.

Li gilt dank gekonnter Interaktion mit dem überwiegend weiblichen Publikum als größtes Verkaufstalent im Segment von Schönheitsprodukten. Seine Live­streams generieren Milliardenumsätze auf der führenden Onlinehandelsplattform Taobao. Dort kann er sich zum Kummer des Taobao-Betreibers Alibaba und Vertragspartnern aus der Kosmetikbranche nach einem öffentlichen Entrüstungssturm nicht mehr blicken lassen.

Ausnahmsweise uncharmant

Was hat dem Influencer mit 75 Millionen Followern und dem Spitznamen „Lipstick King“ so rüde das Mundwerk gelegt? Zwei, drei unvorsichtige Sätze in einer Livestream-Session, bei denen Li direkt mit Teilnehmern interagiert, waren ausschlaggebend. Eine Kundin fragte leidend, warum ein Augenbrauenstift zum Preis von 79 Yuan (10 Euro) diesmal so teuer sei? Der stets charmante Li reagierte diesmal ungehalten.

„Zu teuer?“, schrie er ins Mikrofon. „Schwester, du lügst, das ist der gleiche Preis wie seit Jahren.“  So weit, so harmlos, doch dann folgte ein Wortschwall, den sich der Livestream-Profi besser erspart hätte. „Dir kommt ein Augenbrauenstift für 79 Yuan zu teuer vor? Dann bist du das Problem! Hast du etwa nie eine Gehaltserhöhung bekommen? Arbeitest du vielleicht nicht hart genug? Sieh dich mal nach einem Zweitjob um, wenn du so nicht mithalten kannst.“

Schlechter Witz bei schlechter Konjunktur

Vor nicht allzu langer Zeit wäre die kleine Schelte von der Livestream-Kundschaft eher als humoristische Einlage verstanden worden. In Chinas derzeitigem Wirtschaftsklima mit schwachem Konsumvertrauen, zerzaustem Immobilienmarkt, schwindenden Einkommensperspektiven und hoher Jugendarbeitslosigkeit hält sich die Witzigkeit aber in engen Grenzen.

Dass die verachtungsvolle Botschaft an Kleinverdiener einem Yuan-Milliardär von der Zunge gegangen ist, macht es nicht gerade besser. Top-Influencer wie Li kassieren bis zu 20% Kommission auf von ihnen generierte Direktverkäufe sowie Servicegebühren von den Markenherstellern. Von Li weiß man, dass er bereits mehrere Milliarden Yuan verdient hat, weil er vor zwei Jahren eine Steuernachzahlung über hunderte von Millionen Yuan leisten musste.

Steuerhinterziehungsrekord

Damals standen allerdings nicht er, sondern Chinas bekannteste weibliche Livestreamer mit den Künstlernahmen Viya und Cherie in den Schlagzeilen. Insbesondere Viya war wegen eklatanter Steuerhinterziehung aufgeflogen und zu einer Rekordstrafzahlung an den Fiskus über 1,34 Mrd. Yuan, gut 170 Mill. Euro, verdonnert worden. Die konnte sie zwar locker aufbringen, durfte aber nie mehr zurück in die Livestream-Arena.

Li indes konnte seine Steuerschulden diskret begleichen, ohne von Staatsmedien verteufelt zu werden. Im von der Pandemie geprägten Konjunkturklima stand er hoch im Kurs. Man spricht ja gerade von der „Lipstick Economy“, wenn Verbraucher in härteren Zeiten mit relativ großzügigen Ausgaben für Verwöhnungsartikel den Einzelhandel einigermaßen auf Kurs halten. Jetzt ist es mit dem Wohlwollen vorbei.

Alibaba wird alleingelassen

Li hat es sich trotz öffentlicher Entschuldigung nicht nur mit Millionen von Followern verscherzt, sondern ist auch beim Staat unten durch. Die Chancen auf ein Comeback gelten als gering. Näheres weiß man am 11. November, wenn der „Singles Day“ als Chinas wichtigstes Onlineshopping-Festival begangen wird. Aller Voraussicht muss Alibaba/Taobao ohne ihn auskommen und dadurch Einbußen erleiden, die sich nicht so leicht überschminken lassen.

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