Chipindustrie im Dauerstress
Halbleiter
Chipindustrie im Dauerstress
Von Stefan Kroneck
Die Chipbranche ist wegen weltweit zunehmender Konflikte mehr denn je exogenen Schocks ausgesetzt.
Die Chipindustrie steht vor ihrem größten Einschnitt seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren. Die Spekulationen an den Aktienmärkten, wann das gegenwärtige zyklische Tief der Branche endet, verstellen den Blick der Anleger darauf, dass dieser Hochtechnologiesektor zu einem Spielball der Geopolitik geworden ist. In einer fortschreitend digitalisierten Welt lösen elektronische Mini-Bauelemente sukzessive das Öl als Schmiermittel der globalen Wirtschaft ab. Die wachsende Bedeutung von Halbleitern zeigte sich in der zurückliegenden Coronakrise, als Chips wegen Produktionsausfällen in Fernost zur Mangelware wurden. Dadurch gerieten ganze Industriezweige, darunter vor allem die westlichen Autohersteller, unter enormen Druck.
Dieser Angebotsschock rüttelte Washington und Brüssel wach, denn Asien (ohne Japan) steht nach Angaben des US-Branchenanalysehauses WSTS für mehr als die Hälfte des über 500 Mrd. Dollar umfassenden globalen Handels mit Chips (Stand 2023) – Tendenz steigend. Die Furcht vor einer wachsenden Abhängigkeit des Westens vom größten Chip-Auftragsfertiger TSMC aus Taiwan und Samsung aus Südkorea löste einen Subventionswettlauf der USA und der EU aus mit dem Ziel, die eigenen Standorte mit Unsummen von Steuergeldern zu fördern. Die Gegenreaktion hat gigantische Ausmaße. Im Kampf um Chipfabriken kündigte Seoul an, umgerechnet 215 Mrd. Euro in den Ausbau des Zukunftssektors mit staatlichen Fördermitteln zu investieren. Zum Vergleich: Das Industrieprogramm Südkoreas entspricht nahezu der Hälfte des deutschen Bundeshaushalts 2024.
Subventionswettlauf hält an
Dieser Wettlauf dauert noch Jahre an. Schließlich geht es um die industrielle Vorherrschaft von morgen. Chips sind strategische Schlüsselprodukte. Sie werden dadurch zu einem politischen Druckmittel von etablierten und aufstrebenden Wirtschaftsnationen, um ihre eigenen ökonomischen Interessen durchzusetzen. Der Wandel zu einer multipolaren Welt mit mehreren gegeneinander konkurrierenden Staaten beschleunigt diesen Prozess. Das erzeugt automatisch Spannungen, wie die Dauerkonfrontation zwischen den USA und China verdeutlicht. Ein erneuter Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus nach einem möglichen Wahlsieg des mutmaßlichen Spitzenkandidaten der US-Republikaner könnte dazu beitragen, dass dieser Konflikt eskaliert. Der Handelskrieg zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt würde wahrscheinlich eine neue Dimension annehmen. Die Folgen für die Weltwirtschaft im Allgemeinen und für die frühzyklische Chipbranche im Besonderen wären fatal. Vor allem deshalb herrscht ein Bammel vor dem Ausgang der US-Präsidentschaftswahl im Herbst.
Ein weiteres großes Risiko ist in diesem Zusammenhang eine sich zuspitzende Taiwan-Krise. Manche Chiphersteller bereiten sich schon auf das Horrorszenario einer wochenlangen Seeblockade des kleinen demokratischen Inselstaats durch das kommunistische Regime in Peking vor. Um sich dagegen zu wappnen, füllen einige Anbieter ihre Lagerbestände auf. Denn in einem solchen Fall stünden globale Lieferketten vor einer abermaligen Belastungsprobe, die alles bisher Dagewesene überstiege.
Risiko wachsender Volatilität
Die Halbleiterindustrie wird sich darauf einstellen müssen, dass diese Herausforderungen keine Ausnahmen sind, sondern zu einem Normalzustand mutieren. Exogene Schocks als Folge politischer und militärischer Konflikte schränken die Handlungsspielräume der Unternehmen deutlich ein. Die Supermacht USA, die einst die Rolle des Weltpolizisten einnahm, verliert an Einfluss. Dieses Machtvakuum füllen andere, insbesondere China. Die Folge für die Chipbranche ist, dass die Planbarkeit des Geschäfts schwieriger wird. Der Disclaimer börsennotierter Konzerne für Prognosen wird umfangreicher. Das hat wiederum zur Folge, dass die Aussagekraft von Vorhersagen der Hersteller sich tendenziell abschwächt. Das sorgt für einen Dauerstress der Chipindustrie. Die Volatilität von Marktbewertungen nimmt dadurch zu. Im Vergleich dazu wären zyklische Abschwünge in dem kapitalintensiven, schwankungsanfälligen Technologiezweig das geringere Übel.