Das BIP ist nicht alles
Das BIP ist nicht alles
Von Claus Döring
Das Bundeswirtschafts- ministerium sucht Wohlstandsindikatoren zur Ergänzung des BIP. Damit steigt die Gefahr politischer Manipulation der Wohlfahrtsmessung.
Dass in der Wirtschaftswelt die Wahrnehmung von etwas wichtiger sein kann als die tatsächlichen Daten, daran haben wir uns gewöhnt. Man denke an den Ifo-Geschäftsklimaindex oder die ZEW-Konjunkturerwartungen. Diese auch von subjektiver Wahrnehmung der Befragten beeinflussten Indikatoren werden mitunter mehr beachtet und haben oft stärkere Auswirkungen beispielsweise auf die Finanzmärkte als die tatsächlichen Konjunkturdaten. Wenn nun das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht mehr wächst, wie in Deutschland im zweiten Quartal, oder auf Jahressicht vielleicht sogar schrumpft, geht es dann den Deutschen schlechter? Absolut gesehen im Vergleich zum Vorjahr und relativ betrachtet zu den Menschen in anderen Ländern mit wachsendem BIP?
Die Frage, wie aussagefähig das BIP als Wohlstandsindikator ist, treibt nicht nur Ökonomen seit langem um, sondern seit dem Regierungswechsel auch das Bundeswirtschaftsministerium. Denn das BIP zeigt nur die ökonomische Leistung. Den Protagonisten der Sozial-ökologischen Marktwirtschaft mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck an der Spitze reicht das nicht. Deshalb hat sein Ministerium im Jahreswirtschaftsbericht 2022 erstmals einen neuen Ansatz zur Wohlfahrtsmessung vorgestellt und in den Bericht 2023 das Sonderkapitel „Wohlfahrtsmessung und gesellschaftlicher Fortschritt“ aufgenommen, in dem mit 34 Indikatoren „wesentliche Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt in der Gegenwart abgebildet und ergänzende Dimensionen jenseits des Bruttoinlandsprodukts“ dargestellt werden.
Zweifelsohne geht die Wohlfahrt eines Landes und seiner Bürger über die materiellen Aspekte hinaus, zumal auch das BIP ein mit Vorsicht zu genießender Indikator ist. Denn Naturkatastrophen, Unwetterschäden und auch Kriege schlagen sich aufgrund der Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten in Steigerungen des BIP nieder und niemand wird behaupten wollen, dass dadurch der materielle Wohlstand geschweige denn die Wohlfahrt insgesamt zugenommen hätte. Eine fundierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wohlfahrtsmessung durch das BIP sowie alternative Indikatoren findet sich übrigens in einem Aufsatz des Berenberg-Ökonomen Jörn Quitzau in dem gerade erschienenen Buch „Die Wirtschafts-Welt steht Kopf“, das er zusammen mit Norbert Berthold herausgeben hat und das in gut zwei Dutzend Beiträgen renommierter Ökonomen „Konzepte für eine neue Wirtschaftspolitik“ vorstellt (so der Untertitel).
Ob es Aufgabe des Jahreswirtschaftsberichts sein soll, mit zahlreichen Indikatoren die Lebensqualität messen zu wollen, darüber lässt sich trefflich streiten, zumal es von internationalen Institutionen längst Indikatoren wie „Better Life Index“, „World Happiness Report“ oder die „Beyond-GDP“-Initiative gibt. Die das BIP ergänzenden Wohlfahrtsindikatoren sind nicht weniger problematisch als das BIP selbst. Sind steigende Akademikerquoten oder ein zunehmender Anteil von Frauen unter den Existenzgründern Indikatoren höherer Wohlfahrt? Sie können auch das Gegenteil anzeigen: fehlende Ausbildungsplätze und finanzielle Not in Familien. Nun will Habecks Ministerium noch mehr Daten zur Lebensqualität erheben und hat vor einem Monat eine „Konsultation zur Wohlfahrtsmessung" gestartet, die sich an alle Interessierten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft richtet und noch bis zum 6. September läuft (https://bmwk.limesurvey.net/147346?lang=de-easy).
Je mehr weiche Indikatoren in die Wohlfahrtsmessung Einzug halten, desto größer ist die Gefahr politischer Manipulation. Unterm Strich ist wirtschaftlicher Wohlstand die Voraussetzung für andere gesellschaftliche Ziele wie Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit. Deshalb ist für die Wohlstandsmessung das BIP zwar nicht alles, aber ohne das BIP alles nichts.