LEITARTIKEL

Das Ende des Fließbands

Glaubt man den Vordenkern in der Industrie, sind die Tage des Fließbands gezählt. Die große Erfindung, mit der Henry Ford die Fertigung von Massengütern vorantrieb, ist überholt. Exakte Festlegung von Arbeitsschritten und feste Taktzeiten sind im...

Das Ende des Fließbands

Glaubt man den Vordenkern in der Industrie, sind die Tage des Fließbands gezählt. Die große Erfindung, mit der Henry Ford die Fertigung von Massengütern vorantrieb, ist überholt. Exakte Festlegung von Arbeitsschritten und feste Taktzeiten sind im Zeitalter von Big Data und Industrie 4.0 obsolet. Durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Sensorik wird die starre Montagelinie reif für die Schrottpresse.Henry Ford hat zwar weder das Auto erfunden noch das Fließband, aber er hat es wie keiner vor ihm verstanden, ein effizientes Fertigungsverfahren zur Massenproduktion einzusetzen. Der Preis dafür war Standardisierung, die Ford auf die Spitze trieb, weshalb ihm der Ausspruch zugeschrieben wird: “Der Kunde kann jede Farbe haben, solange sie schwarz ist.”Natürlich lassen sich auf Montagelinien auch individualisierte Produkte herstellen. Allein beim aktuellen BMW 7er ergeben sich rechnerisch zehn Millionen Möglichkeiten, den Wagen zu konfigurieren. Dabei kommt es in der Linienfertigung zu Ineffizienzen. In der Smart Factory, in der beispielsweise Audi-Produktionsvorstand Hubert Waltl die Zukunft sieht, ist alles anders: Die starre Montagelinie wird ersetzt durch freie Montageinseln.Das Konzept erinnert an die von Volvo in den 80er Jahren eingeführte Gruppenarbeit, die den Menschen von der permanenten Wiederholung einer genau determinierten Handgrifffolge befreien sollte. Ironischerweise könnten der Gruppenarbeit nun datengesteuerte Maschinen zum Durchbruch verhelfen, für die nicht Monotonie, sondern suboptimale Auslastung ein Problem ist.In der Montagehalle der Zukunft folgt die Fertigung keinem deterministischen Ablauf mehr, sondern jedes Fahrzeug findet, gesteuert von ausgeklügelten Algorithmen, die plötzlich auftretende Materialknappheit ebenso berücksichtigen wie unerwartete Ausfälle bei Mensch oder Maschine, seinen eigenen Weg zur effizienten Vervollkommnung. Die rechnergesteuerten Maschinen in der Smart Factory lösen Probleme durch blitzschnelle Kalkulation und können den Produktionsprozess bei Bedarf schneller umorganisieren, als der erfahrenste Produktionsvorstand es je hätte planen können.Die Vorteile sind enorm: Die Gefahr eines Stopps in der Montagelinie, nur weil es an einer Stelle hakt, ist gebannt. Und die Kosten für das individualisierte Massenprodukt sind nicht höher als bei der Standardlösung.Geht das wirklich? Wozu künstliche Intelligenz in der Lage ist, hat im vergangenen Jahr Deep Mind, die berüchtigte Abteilung für Artificial Intelligence (AI) von Google, gezeigt. Die Software hat bei dem in China beliebten Strategiespiel “Go” die erfahrensten Spieler ausgestochen – dabei galt als gewiss, dass sich Big Data an den praktisch unendlichen Kombinationsmöglichkeiten mit Go-Steinchen die Zähne ausbeißen würde und sich das Spiel nur mit menschlicher Intuition und Gehirnschmalz meistern ließe. Doch “AlphaGo” überraschte mit völlig unkonventionellen Spielzügen, die kein Mensch mehr verstand, die aber zum Ziel führten.Übertragen auf die rechnergeführte Fabrik heißt das: In der Fabrik der Zukunft wird man Produktionsschritte sehen, die alle Konventionen sprengen und die kein Ingenieur für empfehlenswert gehalten hätte. Erst Karosserie, dann Türen, Verkabelung, Innenverkleidung, Sitze, schließlich die “Hochzeit” mit Einführung von Motor und Antriebsstrang in die Karosserie, und schon rollt nach 15 Stunden ein Auto vom Band: das geht auch anders, und so kommt künftig wohl jedes Auto auf eigene Art zur Welt.Das Ende des Fließbands könnte nicht nur in der Fahrzeugproduktion bevorstehen, sondern überall dort, wo ein Endprodukt aus Einzelteilen zusammengesetzt wird. Maschinenbau und Elektronikindustrie könnten die Nächsten sein. Für den menschlichen Beobachter werden die neuen Produktionsmuster, die sich bei wechselnden Bedingungen ergeben, so wirr erscheinen wie die Ordnung in einer chaotischen Lagerhaltung. Warum in der selbstregulierenden Fabrik an welcher Stelle was geschieht, wird keiner mehr durchschauen. Gewiss ist nur: Unter den gegebenen Bedingungen haben die Maschinen die optimale Lösung gewählt. Was im Umkehrschluss heißt: Wenn die Maschinen nicht weiterwissen, wird ihnen der Mensch nicht mehr helfen können.Ob der Fortschritt diesen Preis wert ist, darauf muss jedes Unternehmen eine eigene Antwort finden.——–Von Daniel SchauberIndustrie 4.0 krempelt die Fertigung um. Warum in der Fabrik an welcher Stelle was geschieht, wird kein Mensch durchschauen.——-