Das Gesetz des Schweigens
Notiert in Tokio
Das Gesetz des Schweigens
Von Martin Fritz
Unterschriftenliste, Gesetzesänderung, Parlamentsanhörung, UN-Befragung – das sind einige der Reaktionen auf neue Enthüllungen über den Gründer und Leiter von Japans größter Talent- und Unterhaltungsagentur für Boybands, „Johnny & Associates“. Ehemalige Musiker und Tänzer beschuldigen den vor vier Jahren verstorbenen Gründer und Leiter der Agentur, Johnny Kitagawa, der vielfachen sexuellen Nötigung. Geschätzt 100 bis 200 Jungen fielen ihm zum Opfer. Der eigentliche Skandal besteht jedoch darin, dass Justiz und Medien über Jahrzehnte von seinen Taten wussten. Ein Gericht stellte 2004 sogar fest, dass anonyme Anschuldigungen gegen Kitagawa von 12 Tänzern und Sängern in einem Magazinartikel wahr seien. Aber die Presse hielt sich an ein Gesetz des Schweigens. Denn Kitagawa kontrollierte mit seiner Agentur die beliebtesten Boybands des Landes wie Smap, Arashi und Kat-tun, deren Auftritte in Shows und Talkrunden den Fernsehsendern hohe Quoten und ebenso hohe Werbeeinnahmen einbrachten. Die Staatsanwaltschaft handelte nicht, weil die Opfer ihre Vorwürfe stets anonym erhoben und Sex mit Teenagern ab 13 Jahren legal war.
Doch in diesem Jahr meldete sich mindestens ein Dutzend Männer und behauptete, sie seien als Teenager von Kitagawa missbraucht worden, u.a. mussten sie eine Fellatio über sich ergehen lassen. Der Auslöser für ihre Berichte war eine BBC-Dokumentation über Kitagawa im März. Danach berichtete erstmals ein Opfer, Kauan Okamoto, ohne Anonymität von mehrfachen Übergriffen. Darauf ging auch Kazuya Nakamura an die Öffentlichkeit. Die Agentur von Kitagawa hatte ihn in Johnny’s Jr. aufgenommen. In diesem Trainingslager üben jährlich Hunderte von Jungen das Tanzen und Singen. Die Besten treten dann zusammen mit den etablierten Stars von Johnny’s auf. Die Auswahl der Schüler traf Kitagawa selbst, womöglich nach seinem sexuellen Geschmack.
Nakamura berichtete, dass er am 19. Oktober 2002 – er erinnert sich an das genaue Datum – nach einem Auftritt im Tokyo-Dome-Stadion die Nacht bei Kitagawa zu Hause verbrachte. Er lud regelmäßig Dutzende von Jungen ein, in seinem Penthouse im Tokioter In-Viertel Shibuya zu übernachten. Dort hielt Kitagawa die Teenager mit einem Swimmingpool, Videospielen und Snacks bei Laune. Nach Angaben des damals 15-jährigen Nakamura musste er mit zwei anderen Mitgliedern von Johnny’s Jr. in einem Bett schlafen, als Kitagawa, damals bereits 70, ihn zum Sex gezwungen habe. Er schloss einfach seine Augen und betete, dass es vorbei sei. Die beiden anderen Jungen schwiegen, schliefen oder täuschten Schlaf vor. Am nächsten Tag, so Nakamura, gab ihm Kitagawa einen oder zwei 10.000 Yen-Scheine (damals jeweils 120 Euro). Er lehnte ab, aber Kitagawa drückte ihm das Geld in die Hand. An diesem Abend trat er erneut auf. “Wenn man im Tokyo Dome auf der Bühne steht, ist der Blick auf die Scheinwerfer so schön”, erzählt er. “Es war immer noch so schön, aber ich konnte die Freude nicht spüren.” Er hörte auf, zu den Tanzstunden zu gehen. Jahrelang schämte sich Nakamura und erzählte nur einigen engen Freunden und seiner Mutter von dem Übergriff.
Doch all diese Berichte tauchten immer noch nicht auf Titelseiten oder in TV-Hauptnachrichten auf, nur wenige Journalisten übten Selbstkritik für ihr jahrzehntelanges Schweigen. Die Präsidentin von Johnny & Associates, Kitagawas Nichte Julie Keiko Fujishima, entschuldigte sich nur knapp auf Youtube. Sie beauftragte den Ex-Staatsanwalt Makoto Hayashi, die Vorwürfe mit einem Dreier-Team zu untersuchen. Laut Hayashi will die Agentur die Opfer nicht finanziell entschädigen, aber er arbeite mit der Annahme, dass es zu sexuellem Missbrauch gekommen sei. Doch das Opfer Nakamura berichtete, er habe die Ermittler nicht erreichen können. Er organisiert nun eine Sammelklage und hofft, dass die japanische Gesellschaft dieses Mal anerkennt, was ihm und anderen widerfahren ist. “Es ist wichtig, dass wir unsere Stimme erheben”, erklärte der heute 36-Jährige.