Das jüngste Gerücht
Es mag nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig sein, am obersten europäischen Gericht zu arbeiten. Aber abwechslungsreich ist es auf jeden Fall. Denn beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg laufen Rechtssachen auf, die genauso unterschiedlich und facettenreich sind wie die Europäische Union.
Mal geht es darum, ob Frauen 1,70 Meter groß sein müssen, um griechische Polizistinnen zu werden. Mal wird darüber gestritten, ob Zyklonstaubsauger in Energieverbrauchstests nicht massiv gegenüber Saugern mit Beuteln benachteiligt sind. Mal sollen die Richter entscheiden, ob ein deutsches Standesamt akzeptieren muss, dass sich Nabiel Peter Bogendorff von Wolffersdorff in England umbenannt hat in Peter Mark Emanuel Graf von Wolffersdorff Freiherr von Bogendorff. Und mal wird darüber verhandelt, ob „Fack Ju Göthe“ deswegen nicht als Unionsmarke geschützt werden darf, weil damit ein Schriftsteller posthum in vulgärer Weise verunglimpft wird. Kurzum: Als Richter oder Richterin am EuGH hat man mit reichlich Geschichten zu tun, die Anekdoten für die nächste Grillparty abwerfen.
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Gestern hatte der Europäische Gerichtshof mal wieder eine besonders harte Nuss zu knacken. Die Richter mussten sich über einen Fall beugen, in dem es um Marktgerüchte und Insiderhandel geht. Ein Journalist hatte auf der Website der „Daily Mail“ berichtet, dass im Markt Gerüchte über Übernahmeangebote für den Luxus-Modeartikler Hermès und für das Ölunternehmen Maurel & Prom umgingen – und er hatte die Artikel mit Details über die Höhe des vermeintlichen Angebotspreises garniert. Seine Berichterstattung löste Kurssprünge der Zielfirmen aus. Dem Journalisten wurde anschließend von der Marktaufsichtsbehörde eine Geldbuße aufgebrummt. Denn er hatte kurz vor der Veröffentlichung Analysten angerufen, um sie zu den Spekulationen zu befragen. Und denen hatte er erzählt, dass er vorhabe, über die Gerüchte zu schreiben. Die Analysten wiederum hatten sich im Wissen um die bevorstehende Veröffentlichung der Artikel über die Spekulationen mit Aktien der Zielfirmen eingedeckt und einen schnellen Euro verdient.
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Und was sagt der EuGH dazu? Nüscht! Zumindest nichts Erhellendes. Der EU-Gerichtshof antwortet nämlich auf die Frage, ob in diesem Fall die Pressefreiheit höher wiegt als der Schutz der Marktintegrität, im Stile von Radio Eriwan: Im Prinzip ja. Allerdings obliege es dem nationalen Gericht, zu klären, ob „die Verhältnismäßigkeit gewahrt“ worden ist. In dem Sinne: Wenn es schlimmere Auswirkungen hat, Journalisten Nachfragen bei Analysten zu verbieten (weil man mit solchen Maßnahmen die Arbeit der Presse behindert), als in Kauf zu nehmen, dass einzelne Anleger unlauter bevorteilt werden und damit das Vertrauen in den Aktienmarkt zerbröselt, dann ja. Sonst nein. Aber bitte: Wer traut sich eine solche Abwägung ernsthaft zu?
Noch mehr Fragezeichen hinterlässt die zweite Feststellung im Urteil. „Die Offenlegung einer Insiderinformation durch einen Journalisten ist nur rechtmäßig, wenn sie für die Ausübung seines Berufs erforderlich ist.“ Das Gericht sagt gleich dazu, was es damit meint: Es müsse im konkreten Rechtsfall geklärt werden, ob es wirklich nötig ist, dass ein Journalist Hinweise auf eine bevorstehende Veröffentlichung gibt, wenn er Fachleute anspricht, um den Wahrheitsgehalt eines Gerüchts zu überprüfen.
Liebe Richter, bei allem Respekt, das wirkt weltfremd. Glaubt Ihr, dass wir Journalisten ernsthaft einen Aktienprofi anrufen und zu Spekulationen über ein vermeintlich bevorstehendes Übernahmeangebot für einen Konzern zu einem Preis von 86% über Börsenschluss befragen können – und es uns gelingen soll, zu verbergen, dass wir darüber eine Geschichte in unserem Blatt vorbereiten. Hand aufs Herz: Im Verlauf eines solchen Recherchegesprächs am Ende zu sagen: „Nichts für ungut, aber über das, was wir da eben gesprochen haben, werde ich natürlich nichts schreiben, das hat mich nur mal so privat interessiert“ – das würden sich nicht einmal Münchhausen, Käpt’n Blaubär oder Pinocchio trauen.
(Börsen-Zeitung,