LeitartikelKehrtwende in Westminster

Das letzte Aufgebot

Die Tories haben mit David Cameron die politische Mitte wiederentdeckt. Es ist die letzte Chance für die Regierungspartei, bei den Wählern zu punkten.

Das letzte Aufgebot

Das letzte Aufgebot

Die Tories haben die politische Mitte wiederentdeckt. Es ist die letzte Chance für die Regierungspartei, bei den Wählern zu punkten.

Von Andreas Hippin

Die britischen Konservativen haben trotz verheerenden Umfragewerten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die unaufhaltsam herannahenden Unterhauswahlen zu gewinnen. Dafür verabschieden sie sich unter der Führung von Premierminister Rishi Sunak vom rechten Tonfall und den sozialkonservativen Anhängern, die ihnen 2019 eine überwältigende Mehrheit im Unterhaus verschafften. In der Parteizentrale weiß man, dass man bis zu den Wahlen, die spätestens Ende Januar 2025 stattfinden müssen, an den realen Verhältnissen ohnehin nichts mehr ändern kann. Jetzt geht es nur noch darum, den Wählern möglichst glaubhaft Versprechungen zu machen. Labour mottet unterdessen den Linkspopulismus vollends ein, für den Jeremy Corbyn stand.

Surreales Comeback

Die Vorbereitungen auf den Wahlkampf drücken sich auch in Personalien aus. Innenministerin Suella Braverman, eine Vertreterin des rechten Flügels, musste gehen. Sie hatte versucht, sich als Alternative zu Sunak zu positionieren. Die schon länger eingefädelte Rückkehr des ehemaligen Premierministers David Cameron als Außenminister wirkte fast schon surreal. Der Wunsch, in die Zeit vor der Entscheidung für den Brexit und vor dem immensen Schaden, der durch die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung entstand, zurückzukehren, ist weit verbreitet. Im verklärten Blick zurück war es eine Zeit, in der nicht raubeinige Populisten wie Boris Johnson, sondern wohlmeinende Technokraten den Ton angaben.

Cameron im Kabinett

Sunaks neues Kabinett ist das letzte Aufgebot, mit dem die Tories in den Wahlkampf ziehen werden. Zu Camerons Gefolgsleuten dort gehören Vizepremier Oliver Dowden, der einst als Berater für ihn in 10 Downing Street arbeitete, und seine Redenschreiberin Laura Trott, die eine wichtige Rolle im Schatzamt erhielt. Für die tiefsitzenden strukturellen Probleme des Landes hatten sie schon während seiner Regierungszeit keine Lösungen. Das Votum für den EU-Austritt 2016 war auch ein Votum gegen Cameron. Die Verzweiflung vieler Bewohner abgehängter Regionen machte sich darin Luft.

Kampf um die politische Mitte

Als Cameron 2010 Premierminister wurde, verströmte er noch eine gewisse Jugendlichkeit und Frische. Auch Tony Blair punktete einst mit diesen Eigenschaften. Nun wollen beide Volksparteien mit den aufgewärmten Konzepten ehemaliger Erfolgsfiguren die politische Mitte für sich gewinnen. Doch die Mitte ist in dem nach wie vor hochgradig polarisierten Land schwerer zu verorten denn je und wohl auch wesentlich schmaler als gedacht. Der Labour-Führer Keir Starmer wirkt bereits vor Beginn des Wahlkampfs noch verbrauchter als Sunak, der von den fünf Versprechen vom Jahresanfang, an denen er sich messen lassen wollte, bislang nur eins erfüllt hat.

Kapitulation im Norden

Den Tories geht es vor allem um die wohlhabenden Wahlkreise im Süden, die sie nicht an die Liberaldemokraten verlieren wollen. Die Mandate, die sie Labour 2019 im englischen Norden abjagen konnten, interessieren sie nicht mehr. Die Hoffnung auf eine schrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse in den postindustriellen Armutsregionen an den wohlhabenden Südosten wurde bitter enttäuscht. Die Ansage, man wolle die Kontrolle über die Außengrenzen zurückerlangen, erwies sich als nicht ernst gemeint. Das Kalkül der Parteistrategen ist vermutlich, dass diese Wähler zwar verloren sind, aber auch nicht zu Labour zurückkehren werden.

Nichtwähler werden mehr

Tatsächlich könnten die Nichtwähler 2025 nicht nur in Nordengland in der Mehrheit sein. Die Tories locken zwar mit Steuergeschenken. Labour wirbt dagegen mit höheren Sozialleistungen. Doch beide stehen für hohe Steuern, hohe Staatsausgaben und einen immer größeren Verwaltungsapparat.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die von beiden Volksparteien Verprellten auf Dauer in den Schmollwinkel zurückziehen werden. Ausgerechnet die unkontrollierte Einwanderung über den Ärmelkanal könnte zum Kristallisationspunkt einer neuen Rechtspartei werden. Das ist vor allem deshalb ärgerlich, weil das Thema Zuwanderung, anders als auf dem europäischen Kontinent, jahrzehntelang keine gesellschaftlichen Spannungen mehr auslöste.

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