EU und Großbritannien

Das Nordirland-Dilemma

Sollte Großbritannien das Nordirland-Protokoll aussetzen, muss die EU konsequent antworten – ansonsten würde sie einen Präzedenzfall schaffen.

Das Nordirland-Dilemma

Ende der Woche treffen sich in Brüssel wieder einmal EU-Kommissionsvize Maros Sevcovic und der britische Brexit-Minister David Frost, um im Nordirland-Streit doch noch eine Lösung zu finden. Die Lage ist verfahren. Sevcovic hat zuletzt zwar atmosphärische Verbesserungen festgestellt. Unklar ist aber noch, ob da nicht nur der Wunsch der Vater des Gedankens war. Denn die bisherigen Verhandlungsrunden waren eher von Unversöhnlichkeit und Drohungen gekennzeichnet. Viele Beobachter in Brüssel und London halten es ja ohnehin nur noch für eine Frage der Zeit, bis die britische Regierung den berühmt-berüchtigten Artikel 16 des Nordirland-Protokolls zieht – eine Schutzklausel, über die die vereinbarten Zollkontrollen im Handel zwischen dem britischen Festland und Nordirland ausgesetzt werden könnten. Damit hätte der Konflikt eine neue Eskalationsstufe erreicht.

Bei der Frage, wie es so weit kommen konnte, lässt es sich mit dem Finger leicht in Richtung London zeigen. Dort wurde das Nordirland-Problem schon im Zuge der Brexit-Abstimmung übersehen, in den Verhandlungen mit der EU dann lange nicht ernst genommen oder als Spielball zur Durchsetzung eigener Handelsinteressen benutzt. Im Herbst 2019 haben Frost und Premier Boris Johnson eine eigene Lösung ausgehandelt und diese unterschrieben und ratifizieren lassen. Im Anschluss wurden aber zahlreiche Konsequenzen dieses Protokolls öffentlich immer wieder geleugnet und die Implementierung ausgebremst. Und seit die ersten Probleme bei der Umsetzung aufgetreten sind, fordert das Duo Frost/Johnson eine grundsätzliche Neuaufstellung. Ganz offensichtlich wollen sie dabei auch Forderungen, mit denen sie in den Brexit-Verhandlungen gescheitert waren, auf diesem Wege noch einmal neu auf die Agenda hieven. Stichwort: Rolle des EuGH in Nordirland.

Da nach einer Übergangsphase bestimmte tierische Produkte nicht mehr so ohne Weiteres nach Nordirland eingeführt werden durften, haben britische Zeitungen den Konflikt „Würstchenkrieg“ getauft. Doch dies wird der komplexen Gemengelage natürlich noch nicht einmal im Ansatz gerecht und blendet auch die entscheidende Rolle nordirischer Interessengruppen und des Karfreitagsabkommens aus. Wie instabil der Friedensprozess immer noch ist, zeigen die Bilder von brennenden Bussen und die Gewaltausbrüche schon im Frühjahr. Ob die britische Regierung hierzu indirekt beigetragen hat, indem sie das von ihr selbst ausgehandelte Nordirland-Protokoll immer wieder öffentlich in Frage gestellt hat, sei einmal dahingestellt.

Fakt ist, dass ein reibungsloser Start bei der Umsetzung des Protokolls kaum möglich war, weil das Handels- und Kooperationsabkommen der EU mit Großbritannien erst an Heiligabend 2020 fertig wurde. Fakt ist auch, dass sich zu strikte Regeln gezeigt haben, die beseitigt gehören, etwa bei der Medikamenten- und Lebensmittelversorgung der Nordiren. Fakt ist außerdem, dass auch Brüssel eine Mitschuld an der verfahrenen Situation trägt. Die EU-Kommission hatte im Januar in der aufgeheizten Debatte um knappe Impfstoffe mit Kontrollen bei Lieferungen nach Nordirland gedroht. Dies hatte sie zwar schnell wieder zurückgenommen, da war das Kind aber schon in den Brunnen gefallen, die Atmosphäre nachhaltig vergiftet.

Während Großbritannien jetzt Kernbestimmungen des Nordirland-Protokolls durch Neuverhandlungen aushebeln möchte, hat die EU ein Paket mit deutlichen Erleichterungen innerhalb des derzeitigen Rechtsrahmens vorgelegt. Dies ist eigentlich der richtige Weg. Pacta sunt servanda. Ohnehin bleibt Nordirland im britisch-europäischen Verhältnis ein kaum zu lösendes Problem, da immer eine Grenzziehung nötig ist, die eine Seite verärgert. Das Protokoll neu zu verhandeln ändert daran wenig.

Ursprünglich hieß es einmal, London wolle den Artikel 16 gleich nach Ende der Glasgower Klimakonferenz ziehen. Jetzt könnte es sein, dass sich Johnson und Frost mit Blick auf das anstehende Weihnachtsgeschäft nicht noch mehr Schwierigkeiten aufladen wollen. Denn es ist klar, dass die EU reagieren muss: mit der Einführung von Zöllen, mit einem Vertragsverletzungsverfahren, mit der Aussetzung anderer Verträge, die London wichtig sind, oder im härtesten Fall auch mit der kompletten Aussetzung des Handelsabkommens. Dies wäre eine logische Konsequenz, da das Nordirland-Protokoll ja die Voraussetzung für den Handelsdeal war. Hier nicht konsequent zu antworten wäre für die EU keine Alternative, weil damit auch für andere schwierige Handelspartner – wie China – ein Präzedenzfall geschaffen würde.

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