Im BlickfeldSpanische Konjunktur

Das verborgene Potenzial der spanischen Wirtschaft

Das Statistikamt INE korrigiert die Wachstumszahlen nach Zweifeln an der Berechnungsmethode und politischem Zank deutlich nach oben.

Das verborgene Potenzial der spanischen Wirtschaft

Das verborgene Potenzial der spanischen Wirtschaft

Das Statistikamt INE korrigiert die BIP-Zahlen nach Zweifeln an der Berechnungsmethode und politischem Zank deutlich nach oben.

Von Thilo Schäfer, Madrid

Spanien ist derzeit der Wachstumsmotor unter den großen Volkswirtschaften Europas. Das ist das Land schon seit längerem, und zwar in größerem Ausmaß als bisher angenommen. Das nationale Statistikamt INE revidierte am Mittwoch die Berechnungen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die vergangenen drei Jahre nach oben. So wuchs die Wirtschaft im vergangenen Jahr um Inflation bereinigt um 2,8%, zwei Zehntelpunkte mehr als bei der letzten Überarbeitung des INE im März. Für 2022 wurde die Zahl um vier Zehntelpunkte auf 6,2% und für 2021 um drei Zehntelpunkte auf 6,7% angehoben. Es war bereits die vierte deutliche Anhebung in zwei Jahren.

Durch die Revision erhöht sich Spaniens Wirtschaftsleistung um 36,4 Mrd. Euro, wie das Wirtschaftsministerium erklärte. Allein dadurch sinkt die Quote der Staatsverschuldung um fast drei Zehntelpunkte auf 105%. Die Überarbeitung erfolgte im Rahmen der periodischen Angleichungen im Euroraum. „Diese außergewöhnlichen, reglementierten Revisionen kann man nicht als Korrektur oder Fehler der Schätzungen interpretieren. Sie sind Folge der Einbeziehung neuer bilanztechnischer Quellen und technischer Statistiken“, erläuterte das INE. Aber die fehlerhafte Kalkulation der letzten Jahre hatte einen politischen Streit ausgelöst.

Rücktritt des Leiters

Die Linksregierung von Pedro Sánchez und einige Volkswirte hegten schon seit längerem Zweifel an den Zahlen des amtlichen Instituts und kritisierten, dass das INE das wahre Wirtschaftswachstum systematisch unterschätzt hatte. Wegen der Kontroverse musste der Leiter des Statistikamtes, Juan Manuel Rodríguez Poo, im Juni 2022 seinen Hut nehmen. Die Ungereimtheiten bei der Berechnung des BIP lagen für viele Experten auf der Hand. So wurde der Binnenkonsum niedriger veranschlagt, als es die Einnahmen der Mehrwertsteuer andeuteten. Ähnliches galt für die Erlöse aus der Körperschaftsteuer, die auf eine schnellere Erholung der spanischen Wirtschaft nach dem Einbruch von knapp 11% durch die Pandemie 2020 hinwiesen.

Einer der Gründe war der unerwartet rasche Anstieg der Bevölkerung durch die Migration. Dies erklärt auch die Diskrepanz der Zahlen am Arbeitsmarkt. Während nämlich in den letzten Jahren immer mehr neue Jobs entstanden, welche die Zahl der Beitragszahler der Sozialversicherung auf einen neuen Rekord von über 21 Millionen trieben, sank die Erwerbslosenquote nur langsam auf aktuell 11,3%.

Die Fehlkalkulation des BIP hatte politische Folgen. So führte die konservative Opposition bei den vielen regionalen, lokalen und den vorgezogenen Neuwahlen zum nationalen Parlament 2023 als Hauptargument gegen die wirtschaftspolitische Bilanz der Linksregierung das Argument an, dass Spanien als einzige große Volkswirtschaft noch nicht das Niveau von vor der Pandemie wiedererlangt habe. Diese Behauptung ist durch die Revision hinfällig geworden.

Der Fehler hatte indessen auch Folgen für die Berechnungen von Staatsdefizit und Schuldenquote, die im Nachhinein besser aussehen als bislang gedacht. Dennoch gelang es Spanien, vom Verfahren wegen eines exzessiven Defizits durch die Europäische Kommission ausgenommen zu werden, im Gegensatz etwa zum Nachbarn Frankreich.

Die Regierung sieht ihre Politik in der Doppelkrise durch Virus und Energiepreisexplosion bestätigt. Das Kurzarbeitergeld vermied Firmenpleiten und einen Anstieg der Erwerbslosen, ganz anders als nach der Rezession durch die geplatzte Immobilienblase 2008. Die spanischen Banken konnten ebenfalls einen von vielen Experten befürchteten Anstieg der Kreditausfälle vermeiden. Ein tragender Faktor des Wachstums war neben dem Tourismusboom der Binnenkonsum. Die privaten Haushalte gaben laut der jüngsten Revision für 2023 gut 17 Mrd. Euro mehr aus, als bisher veranschlagt worden war, während die Investitionen der Unternehmen mit 13,4 Mrd. Euro höher berechnet wurden.

Die spanische Notenbank nimmt die Kollegen vom INE teilweise in Schutz. Solche Angleichungen der Statistiken seien normal in allen Ländern. „Allerdings gibt es tiefgreifendere Revisionen, und dies ist eine“, sagte ein Volkswirt des Banco de España, der nicht namentlich zitiert werden darf, am Dienstag bei der Präsentation der Herbstprognose der Notenbank in Madrid. Der Zuwachs der Bevölkerung durch die Migration sei unterschätzt worden. Dadurch erhöhe sich auch das Wachstumspotenzial der spanischen Wirtschaft auf fast 2%, so der Experte.

Die Prognosen des Banco de España „werden morgen hinfällig“, räumte der Notenbanker mit Blick auf das INE ein. Man werde die neuen Grundlagen der Revision in die Winterprognose im Dezember einarbeiten. Die Aussichten werden sich dadurch weiter verbessern. Die Bank korrigierte ihre Prognose für das BIP in diesem Jahr von 2,3% auf 2,8% nach oben. Allerdings wird die Dynamik im dritten Quartal schon ein wenig nachlassen, mit einem geschätzten Anstieg von 0,6% gegenüber Juni. Die Wirtschaft profitiert weiterhin vom starken Boom des internationalen Tourismus, der in diesem Jahr voraussichtlich einen neuen Besucherrekord aufstellen wird. Doch sehen die Notenbanker das Ende der Fahnenstange des wichtigsten Wirtschaftszweigs bald erreicht. Der Binnenkonsum soll in den nächsten Jahren den Export als Wachstumsmotor ablösen.

Am positiven Trend der spanischen Wirtschaft ändert daher auch die statistische Überarbeitung nichts.

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