Im BlickfeldArgentiniens Wirtschaftsreformen

Der Anarcholiberale geht aufs Ganze

Monatelang unterstützten die Argentinier die radikalen Reformen ihres Präsidenten. Doch nun scheint ein Wendepunkt erreicht. Die Angst um den Arbeitsplatz ist nun größer als die Furcht vor der Inflation.

Der Anarcholiberale geht aufs Ganze

Der Anarcholiberale geht aufs Ganze

Die Stimmung in Argentinien kippt. Die Angst um Jobs ist größer als vor der Inflation. Präsident Javier Milei wird in die Defensive gedrängt.

Von Andreas Fink, Buenos Aires

Die Woche hätte besser beginnen können für Javier Milei. Nur kurz nachdem Argentiniens Präsident am Montag an der New Yorker Börse die Finanzwoche eingeläutet hatte, begannen daheim die Kurse von Aktien und Staatsanleihen zu sinken. In einer Ansprache an der Wall Street hatte der 53-jährige Staatschef bekräftigt, dass er die Wechselkurskontrollen erst dann aufheben könne, wenn die Inflationsrate auf 0% gefallen sei. Das ist eine sehr ambitionierte Marke in einem Land, das mit einer jährlichen Geldentwertung von mehr als 230% immer noch die weltweiten Inflationsstatistiken anführt.

Obwohl Milei nach der Übernahme einer vollkommen zerrütteten Volkswirtschaft am 10. Dezember die Staatsausgaben rigide kürzte, die Neuemission von Pesos praktisch einstellte und eine massive Rezession in Kauf nahm, konnte der Preisauftrieb nicht völlig eingefangen werden. Seit vier Monaten beträgt der monatliche Preisauftrieb etwa 4%. Obwohl die Rechnungen für Strom, Gas und Wasser massiv gestiegen sind, bezahlen die Verbraucher immer noch erst 70 Prozent der realen Kosten. Die Tarife werden also noch deutlich angehoben werden müssen. Das gilt auch für Ausgaben im Gesundheits- und Bildungssektor.

Verschiebung der Freigabe

Vor diesem Kontext haben Milei und sein Finanzminister Luis Caputo entschieden, die Freigabe der Devisenmärkte vorläufig zu verschieben, womöglich gar bis nach den Parlamentswahlen im Oktober 2025. Die Regierenden fürchten einen Run auf Dollar, der den Peso deutlich abwerten und einen neuen Teuerungsschub auslösen könnte. Das würde das primäre Regierungsziel gefährden: die Inflationsbekämpfung.

Als Milei vor neun Monaten die Präsidentschaft übernahm, drohte er seinen Landleuten eine Hyperinflation an, falls sie ihm nicht auf einem rigiden Sparkurs folgen wollten. Milei, dessen Fraktion im Kongress nicht mehr als 15% der Sitze innehat, gelang es, nach monatelangen heftigen Debatten zwei umfassende Reformpakete durch das Parlament zu bringen. Das ist nun eines von Mileis politischen Standbeinen. Das andere war bislang die Unterstützung erheblicher Teile der Bevölkerung.

Milei droht mit Veto

Tatsächlich waren Wirtschaft und Politik erstaunt über die Unterstützung für Milei auch aus der unteren Mittelklasse und der Mittelklasse, die am meisten unter Teuerung und Rezession leiden. Doch nun scheint sich das Blatt zu wenden. In mehreren relevanten Umfragen sind die Zustimmungsraten für Milei und seinen Reformkurs eingebrochen. Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Poliarquía sank Mileis persönliches Image innerhalb eines Monats um 7%. Und der von der Universität Di Tella erhobene Index des Regierungsvertrauens (ICG) zeigt einen Rückgang von 14,8% zum Vormonat. Ein dramatischer Rückgang, der einer bizarren Debatte über die Alterssicherung folgte. Nachdem die Oppositionsmehrheit im Kongress eine sehr moderate Rentenanpassung beschlossen hatte, legte Milei nicht nur sein präsidiales Veto dagegen ein. Er richtete auch noch ein Festessen aus für all jene Parlamentarier, die zu ihm hielten.

Die Umfragen zeigten aber auch zwei neue Trends: Erstmals geben die Befragten Milei die Hauptverantwortung dafür, dass mittlerweile 55% der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht sind. Zweitens ist die Angst vor der Inflation nicht mehr so groß wie die Furcht um den Arbeitsplatz.

Investoren wenden sich ab

Jenseits der Grenzen werden solche Signale gewiss registriert. Ein Mix aus schwindender Unterstützung, politischer Fragilität und Währungskontrollen wird nur wenige Unternehmen zu Investitionen in Argentinien animieren. Dabei bräuchte das Land diese unbedingt, um jene Devisen zu akkumulieren, die es für den Schuldendienst braucht. Im kommenden Jahr muss Finanzminister Caputo 24 Mrd. Dollar für private und öffentliche Gläubiger bereitstellen. Ohne Devisenkontrollen könnte die Regierung auf eine Refinanzierung dieser Schulden durch den Markt setzen und einen erheblichen Teil dieser Zahlungen vermeiden. Aber wenn die Beschränkungen bleiben, wird das deutlich schwerer.

Die größten Erwartungen scheinen Milei und Caputo auf den 5. November zu richten. Denn sollte Donald Trump die US-Wahl gewinnen, erhofft dessen argentinischer Epigone US-Unterstützung beim Versuch, vom Internationalen Währungsfonds nochmals Unterstützung zu bekommen, um das notwendige Polster für die Freigabe des Peso aufzubauen. Finanzmarktexperten glauben, dass Caputo zwischen 10 und 15 Mrd. Dollar an Reserven bräuchte.

Massenstreiks drohen

Einstweilen behelfen sich Argentiniens Behörden mit den Einkünften aus einer Steueramnestie. Sie soll mindestens 40 jener angeblich 400 Mrd Dollar in das Bankensystem holen, die Argentinier bislang in Matratzen, Schließfächern und im Ausland gebunkert hatten. Und Caputo wird nach Möglichkeiten suchen, einen Teil der Bankeinlagen für den Schuldendienst zu verwenden. Hier drohen Reibungen.

Konflikte dräuen an vielen Stellen. An den Flughäfen streiken Mitarbeiter der chronisch defizitären Staats-Fluglinie Aerolíneas Argentinas. Und nun haben auch Eisenbahner, Bus- und Lastwagenfahrer Kampfbereitschaft signalisiert. Daraus kann ein massiver Konflikt erwachsen. Ein anderer droht bei der Energieversorgung, weil hohe Temperaturen und brüchige Infrastruktur die Versorgung gefährden. Wenn kurz vor Weihnachten bei 38 Grad Klimaanlagen, Aufzüge und Wasserpumpen versagten, ist Argentinien schon mehrfach explodiert; zuletzt im Dezember 2001. Eine wenig mutmachende Kombination für Milei und seine Partei „La Libertad Avanza“, die im Oktober ihre parlamentarische Basis ausbauen will.

Diese Absicht spricht aus dem Haushaltsentwurf, den Milei jüngst dem Kongress präsentiert hat. Da sind mögliche Wahlgeschenke enthalten, wie erhöhte Zuweisungen für öffentliche Bauvorhaben. Aber diese Zuwächse will Milei nur aus dem Wachstum der Wirtschaft finanzieren, das er optimistisch auf 5% beziffert. Neue Schulden seien grundsätzlich verboten. Aber wird Milei für dieses Budget eine Mehrheit finden? Oder hat er es gar darauf angelegt, eine Abfuhr zu bekommen, um dann ohne gesetzlichen Rahmen zu disponieren? Viele Leitartikler in Buenos Aires trauen ihm das zu. Milei ist schließlich nicht nur ein Liberaler, sondern ein Anarcholiberaler.