Im BlickfeldFachkräfte in der Automobilindustrie

Der brutale Strukturwandel schreibt auch schöne Geschichten

Der Strukturwandel in der Automobilindustrie bedroht auch die Arbeitsplätze vieler Fachkräfte. Ein Beispiel aus Turin zeigt, dass es für solche Leute auch andere Einsatzgebiete wie die Schifffahrtsindustrie gibt. Doch die schöne Geschichte aus der Fiat-Metropole ist leider nicht der Normalfall.

Der brutale Strukturwandel schreibt auch schöne Geschichten

Automobilkrise

Der Strukturwandel schreibt auch schöne Geschichten

In Turin bringen ehemalige Fiat-Leute den Schweizer Industriekonzern Accelleron voran. So geschmeidig verläuft die Krise aber selten.

Einbrechende Umsätze, kollabierende Gewinne, Fabrikschließungen und drohende Massenentlassungen: Es vergeht fast keine Woche mehr ohne neue Hiobsbotschaften aus der Automobilindustrie. Das Vertrauen in Europas einstige Vorzeigebranche schwindet rasant, wie die spektakulären Aktienkurseinbrüche bedeutender Hersteller wie BMW, Mercedes, Porsche, Volkswagen oder Stellantis schon seit einiger Zeit zeigen.

Es steht viel auf dem Spiel. In Deutschland könnte allein der Technologiewandel zum Verlust von 400.000 oft gut bezahlten Arbeitsplätzen führen, wenn bis 2030 – wie von der Bundesregierung geplant – ein Fünftel des Verkehrs elektrifiziert ist. Das schon 2021 von der „Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität“ entworfene Szenario rückt näher, je mehr die heimische Industrie durch starke Konkurrenten und kritische Konsumenten in die Defensive gerät.

„Es bricht mir das Herz“

Aber es gibt Lichtblicke, wie ein aktuelles Beispiel aus der italienischen Autometropole Turin zeigt. Das Schweizer Industrieunternehmen Accelleron, das in der Herstellung von Turboladern für große Schiffsmotoren tätig ist, hat im Frühjahr 2023 die Officine Meccaniche Torino mit 250 Mitarbeitenden übernommen und deren Bestand bis dato vor allem dank unzähliger Bewerbungen von Ingenieuren und erfahrenen Facharbeitern aus den Stellantis/Fiat-Werken auf über 300 Beschäftigte ausgebaut. Für die nächsten drei Jahre plant Accelleron bei OMT die Anstellung von weiteren rund 100 Mitarbeitenden.

Für ehemalige Fiat-Angestellte wie Carla Sousa ist der Erfolg von OMT/Accelleron ein Glücksfall. „Wir haben schöne Zeiten erlebt in der Automobilindustrie. Nun bricht mir das Herz, wenn ich sehe, wie meine früheren Kollegen zunehmend um ihre Arbeitsplätze bangen müssen“, sagt die frühere Maserati-Produktmanagerin, die seit sechs Monaten die Kommunikation von OMT verantwortet. Ihre neue industrielle Umgebung, in der es wieder helle Perspektiven gebe, sei ihr vorher unbekannt gewesen, räumt die Managerin ein.

OMT stellt zusammen mit der erst im Juli in der lombardischen Industriestadt Brescia zugekauften Firma OMC2 Einspritzsysteme für große Schiffsmotoren her. Die Bestellungen nehmen explosionsartig zu, weil inzwischen viele neue, teilweise aber auch ältere Schiffe auf den Betrieb mit zwei verschiedenen Treibstoffen aus- und umgerüstet werden. Neben dem CO2-intensiven Diesel kommen zunehmend alternative, treibhausgassparende Treibstoffe zum Einsatz.

„Viele Bewerbungen von hervorragend qualifizierten Kandidaten“

Marco Coppo, Technologiechef von OMT sagt: „Wir sind als kleineres Unternehmen Teil eines stabilen Industriekonzerns. Die Leute sind keine Nummern bei uns und sie sehen unser Potenzial. Darum erhalten wir sehr viele Bewerbungen von hervorragend qualifizierten Kandidaten.“ Der Ingenieur verweist auf andere Firmen wie die belgische Dumarey-Gruppe, die – auch in Turin – gerade dabei ist, das in der Automobilindustrie vorhandene Wissen im Motorenbau auf umweltschonende Treibstoffe (Wasserstoff) oder auch auf neue Kundengruppen (Reedereien) anzuwenden. Die Krise als Chance also?

Von den interessanten Beispielen aus Italien gebe es in Deutschland leider noch kaum etwas zu sehen, dämpft Wirtschaftsprofessor Enzo Weber die Hoffnung. Als langjähriger Leiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg hat der 44-Jährige einen besonderen Blick auf die Anatomie der Krise: „Es gibt in Deutschland eine grundsätzliche Industrierezession, die weit über den Automobilsektor hinausgeht.“ Weber kann seine Aussage mit eigenen Untersuchungen belegen.

Während die Zahl der beendeten Industriejobs seit mehreren Jahren langsam, aber stetig zunehme, sinke die Zahl der neu entstehenden Stellen in der Industrie laufend. Gäbe es irgendwo einen nennenswerten industriellen Wachstumszweig, müsste sich dieser in der Form einer Wechseldynamik innerhalb des Industriesektors bemerkbar machen, erklärt Weber die Logik seines Branchenwechsel-Radars.

„Es fehlt an Neuem“ in Deutschland

Deutschland bekommt die negative Seite des wirtschaftlichen Transformationsprozesses gerade voll ab und „es fehlt an Neuem, das für einen positiven Ausgleich sorgen könnte“, sagt er und fordert: „Wir brauchen eine Politik, die das Neue nach vorne bringt, eine Politik, die den Wettbewerb um das Neue gedeihen lässt.“

So weit ist freilich auch Italien noch lange nicht: In Frosinone, eine Autostunde südlich von Rom, steht ein großes Stellantis-Werk, dessen Belegschaft seit 2017 um rund 2.000 Mitarbeitende auf aktuell 2.700 geschrumpft ist und angesichts eines aktuellen Bestelleinbruchs um mehr als 30% schnell weiter schrumpfen dürfte. Unweit der Fabrik steht ein prosperierendes Werk des schweizerisch-schwedischen Elektroindustriekonzerns ABB. Dieser könnte die Facharbeiter aus der Nachbarschaft für die eigene Expansion im Prinzip gut gebrauchen.

Doch die Praxis ist offensichtlich weniger geschmeidig als die Theorie: „Wir ziehen es in der Regel vor, Kandidaten mit wenig oder gar keiner Erfahrung einzustellen und sie selbst zu schulen, abgestimmt auf unsere Produktionsprozesse, Produkte und Unternehmenskultur“, sagt ein ABB-Sprecher bezogen auf den konkreten Fall.

Derweil fehlt es der Schweizer Industrie weiter an Fachkräften. Die Klage ist nicht neu und sie ist mit der abgeschwächten Industrienachfrage auch kaum leiser geworden. Die vom Bund in Bern geführte Beschäftigungsstatistik zeigt nach der Hälfte des Jahres, dass immer noch fast 70% aller Industriefirmen, die aktiv nach Fachkräften suchen, nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht zum Erfolg kommen.

Könnten Spezialisten aus der kriselnden europäischen Autoindustrie in der Schweiz für Entspannung sorgen? Jean-Philippe Kohl, Vizedirektor beim Industrieverband Swissmem, winkt ab: „Eine Entschärfung des Fachkräftemangels ist nicht zu erwarten“, sagt er auf Anfrage.

Zu stark auf Teile für Verbrennermotoren gesetzt

Swissmem rechnet zwar mit einer Erholung der deutschen Industrie, der wichtigsten Abnehmerin von Schweizer Industrieerzeugnissen. Aber der Verband räumt ein, dass es unter den Automobilzulieferfirmen auch solche gebe, die vielleicht zu stark auf Teile für Verbrennermotoren ausgerichtet seien und deshalb strukturelle Probleme bekommen könnten.

Einschlägige Beispiele gibt es bereits, und wer die im Frühjahr publizierte Zustandsanalyse der Schweizer Automobilzulieferindustrie genauer studiert, ist gewarnt: Die hiesigen Firmen erwirtschaften im Durchschnitt immer noch rund ein Viertel ihrer Umsätze mit in der Schweiz hergestellten Produkten und Dienstleistungen, die auf Verbrennermotoren zugeschnitten sind. Das sind zwar etwa 10% weniger als vier Jahre zuvor, aber immer noch viel für einen Sektor, der in der Schweiz mit über 30.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von etwa 13 Mrd. sfr (13,9 Mrd. Euro) generiert.

Die Branchenanalyse basiert auf einer umfassenden Betriebsbefragung, die das Swiss Center for Automotive Research der Universität Zürich unter Leitung von Professorin Anja Schulze alle vier Jahre durchführt. Für die nächsten fünf Jahre sehen fast 15% von 127 antwortenden Firmen Anpassungen an die Produktionskapazitäten in der Schweiz vor.

„Zäsur für ganze Regionen“

Für Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktspezialist in der Konjunkturforschungsstelle (Kof) der ETH Zürich, steht eines fest: „Die Fachkräfteknappheit ist das bessere Szenario als ein Fachkräfteüberschuss aufgrund einer Krise. Wenn eine Schlüsselindustrie wie die Automobilbranche in eine Krise gerate, dann seien oft ganze Regionen betroffen, sagt Siegenthaler. Denn wer kann, verlässt das Boot – lange bevor es sinkt.

Zurück bleiben die weniger mobilen Mitarbeitenden. „Darum sind Massenentlassungen immer auch eine Zäsur für ganze Regionen“, weiß der Ökonom aus der empirischen Forschung. Auf solche Szenarien können auch keine Schweizer Personalchefs hoffen, die nach wie vor in großer Zahl händeringend nach Fachkräften suchen.

Von Daniel Zulauf, Zürich
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