Notiert inWashington

"Freundlicher Betrug" kostet US-Einzelhandel Milliarden

Im US-Einzelhandel gilt die Devise "Der Kunde ist König". Viele Verbraucher manipulieren aber die kundenorientierte Geschäftspolitik, und das kostet die Branche inzwischen dreistellige Milliardenbeträge im Jahr.

"Freundlicher Betrug" kostet US-Einzelhandel Milliarden

Notiert in Washington

"Freundlicher", aber teurer Betrug

Von Peter De Thier

Michael S. aus Washington schloss im Mai sein Betriebswirtschaftsstudium ab und gönnte sich vor dem Eintritt in das Berufsleben mit zwei Freunden eine dreiwöchige Reise durch Europa. Für das Abenteuer jenseits des Großen Teichs kaufte sich der 23-Jährige mehrere neue Hemden, zwei Paar Jeans sowie Kopfhörer für die langen Bahnfahrten von Paris über München nach Wien und schließlich Rom. Mit fast 800 Dollar belastete Michael seine Mastercard, wusste aber von Anfang an, dass er das Geld bald danach zurückbekommen würde. 

Am Tag nach seiner Rückkehr wartete er nämlich in der "Customer Service"-Abteilung einer Filiale der Warenhauskette Target geduldig auf einen freien Schalter, legte die Quittungen vor und gab die leicht benutzten Waren, die er mit nach Europa genommen hatte, zurück. Hemden und Jeans frisch gewaschen und gebügelt, Kopfhörer, alles in der Originalverpackung. Prompt wurden sämtliche Beträge seiner Kreditkarte wieder gutgeschrieben.   

Michael geniert sich nicht und macht keinen Hehl aus dem "freundlichen Betrug", wie dieser neuerdings im US-Einzelhandel genannt wird. "Die Rückgabe war eine angenehme und problemlose Transaktion, ich habe damit niemandem geschadet, und wenn ein riesiges Unternehmen ein paar hundert Dollar verliert, weil es die Waren nicht weiterverkaufen kann, dann sollte das Management die "return policy" (Rückgabe-Politik) überdenken", sagt er.

Michael ist keineswegs ein Einzelfall, im Gegenteil. Denn nach dem Motto "Der Kunde ist König" waren großzügige Preisnachlässe für neue Kunden sowie die problemlose Rückgabe gekaufter und schon teilweise benutzter Waren schon immer Markenzeichen des US-Einzelhandels. Vor dem Hintergrund der hohen Inflation und der wachsenden Bedeutung der Transaktionen, die nicht mehr im Geschäft, sondern online abgewickelt werden, widmen sich führende Warenhausketten wie Walmart, Target und andere nun verstärkt dem Problem des "freundlichen Betrugs". Denn es geht nicht, wie Michael sagt, um ein "paar hundert Dollar". Einer neuen Studie zufolge erreichten im US-Einzelhandel vergangenes Jahr die Verluste durch Manipulationen der kundenorientierten Geschäftspolitik dreistellige Milliardenhöhe.

Nach Angaben der Online-Plattform "Riskified", die unter Anwendung von künstlicher Intelligenz Betrug im Einzelhandel bekämpft, kostete der "freundliche Betrug" die Branche mehr als 100 Mrd. Dollar pro Jahr. Befragt wurden dafür 300 Unternehmen mit Jahresumsätzen von jeweils mehr als 500 Mill. Dollar. Zwar sagten 93% der Firmen, dass sie eine "kundenfreundliche Politik" für unverzichtbar halten. Gleichwohl seien die Folgen der zahlreichen Missbräuche immer schwerer zu verkraften.

Großer Beliebtheit erfreut sich neben der Ausnutzung des 30-tätigen Rückgaberechts die mehrfache Verwendung von Gutscheincodes. So berichtete ein Einzelhändler, dass 4.000 Personen mehr als 130.000 fiktive E-Mail-Konten einrichteten, um Rabatte in Höhe von 35% zu nutzen, die ausschließlich neuen Kunden vorbehalten sind. Nicht selten ist auch die Rückgabe leerer Verpackungen, die zu einer Gutschrift führen, ehe der Inhalt überprüft wird. 

Häufig würden Betrüger auch Bots verwenden, um sich mit exklusiven Produkten – beispielsweise Sportschuhen von Air Jordan oder Konzertkarten für beliebte Popsuperstars – einzudecken und diese dann mit großem Gewinn online selbst weiterverkaufen, sagt Riskified. Bemühungen, den "freundlichen Betrug" zu bekämpfen, ohne die kundenorientierte Politik zu kompromittieren, befinden sich noch in der Anfangsphase. Immerhin haben einige Unternehmen mittlerweile die Rückgabefrist verkürzt. Unterdessen sagten Manager eines der befragten Unternehmen, dass wegen des administrativen Aufwands, der mit den Missbräuchen verbunden ist, "es mir lieber wäre, wenn Kunden bei uns einbrechen und Waren klauen, statt sie zu kaufen und dann wieder zurückzubringen".

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