LEITARTIKEL

Der Kern des Problems

Tim Cook schimpft das Urteil der EU-Kommission, Apple habe rund 14,5 Mrd. Dollar in Steuern und Zinsen nachzuzahlen, "politischen Mist". Apple brüstet sich damit, einer der größten Steuerzahler Irlands zu sein. Das dürfte sogar stimmen. Der...

Der Kern des Problems

Tim Cook schimpft das Urteil der EU-Kommission, Apple habe rund 14,5 Mrd. Dollar in Steuern und Zinsen nachzuzahlen, “politischen Mist”. Apple brüstet sich damit, einer der größten Steuerzahler Irlands zu sein. Das dürfte sogar stimmen. Der iPhone-Anbieter lässt praktisch alle europäischen Gewinne in Irland registrieren. Trotz seines klar unterdurchschnittlichen Steuersatzes dürfte der profitabelste Konzern der Welt zu den Top-Zahlern des Landes zählen, das global auf einen der höchsten Anteile ausländischer Direktinvestitionen kommt. 2015 haben diese Irland zum stärksten Wirtschaftswachstum in der EU verholfen.Die US-Politik hat auf die EU-Entscheidung verbal wie auf einen ökonomischen Angriff reagiert. Praktisch unisono sind Politiker beider Lager Apple zur Seite gesprungen. Auch Irland hat inzwischen erklärt, gegen den “drohenden” Steuersegen zu klagen. Die Iren wollen Apples Geld nicht, weil sie um ihren Status als erste europäische Adresse für multinationale Konzerne fürchten. Die US-Politik sorgt sich derweil, dass die Nachzahlung ihren Steuerzahlern vorenthalten würde – den Steueraufwand kann Apple bei einer Repatriierung ausländischer Gewinne mit US-Steuerforderungen verrechnen. Dennoch verwundert die Art der amerikanischen Debattenführung. Noch im Frühjahr wetterte die Regierung von Präsident Barack Obama gegen die Steuerflucht in niedriger besteuerte Länder wie Irland mittels inverser Übernahmen. Diese Praxis koste den US-Fiskus Expertenberechnungen zufolge dreistellige Milliardenbeträge im Jahr. Der geplanten Abwanderung des Pharmakonzerns Pfizer per Übernahme der irischen Allergan schob die US-Regierung im Frühjahr einen Riegel vor. Wenn nun also die EU fragwürdigen irischen Steuerpraktiken Einhalt gebieten will, müssten die USA eigentlich am selben Strang ziehen.Tatsächlich ist das Gegenteil zu beobachten. Das legt einen Grundmangel unserer Zeit offen: Wachsendes Misstrauen und schwindende Bereitschaft zu internationaler Kooperation. Weltweit agierende Konzerne tragen daran eine wesentliche Mitschuld. Die US-Industrie beschwert sich zwar darüber, dass der Populismus im Präsidentschaftswahlkampf einzieht und internationale Freihandelsabkommen wie TTIP gebremst werden. Doch während hier Zusammenarbeit gefordert wird, ist man in Steuerfragen regelmäßig froh, den Mangel an internationaler Koordination ausnutzen zu können. Dieser ermöglichte es Konzernen wie Apple oder Google, komplexe Firmenkonstrukte über mehrere Länder aufzubauen, die zu einer drastischen Minderung der Steuerbelastung führen. Die meisten Länder sind sich – wie nun Irland – stets selbst der Nächste. Und der iPhone-Anbieter, der sonst internationale Kooperation in Klimafragen anmahnt, erhebt nun plötzlich die steuerrechtliche Diskriminierung zu einem Ausdruck freiheitlicher Selbstbestimmung souveräner Staaten.Wer sich fragt, wo populistische Antiglobalisierungs-Stimmungen Nahrung erhalten, bekommt hier Anschauungsunterricht. Apple-CEO Cook versucht nicht einmal, Verständnis für das Unverständnis der EU-Kommission zu heucheln. Auch juristische Berater dies- und jenseits des Atlantiks sind nach harschen Urteilen schnell dabei, von Willkür zu sprechen. Den betroffenen Firmen helfen sie mit ihrer falsch verstandenen Loyalität nicht. In Zeiten der Dominanz sozialer Netzwerke ist das Gericht der öffentlichen Meinung wirtschaftlich oft die wichtigste Instanz. Es half VW nicht, den Diesel-Betrugsskandal anfangs kleinzureden. Es wird Apple nicht helfen, sich als Opfer zu stilisieren. Wer vor Gericht Recht behält, wird sich ohnehin erst in einigen Jahren zeigen.Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem hält Apple zu Recht vor, blind für aktuelle gesellschaftspolitische Debatten zu sein. Die Ablehnung fast aller “Eliten”, wie sie sich in der US-Präsidentschaftskandidatur Donald Trumps manifestiert, geht auch auf derartige steuerrechtliche Vorzugsbehandlungen zurück. Dennoch werkeln alle Verantwortlichen weiter wie bisher. Tim Cook hat angekündigt, er wolle 2017 Teile der mehr als 200 Mrd. Dollar schweren ausländischen Barreserven in die USA zurückholen. Die US-Politik dürfte Apple lieber einen deutlichen Steuerabschlag gönnen, als dabei zuzusehen, wie die EU deren enorme Barreserven anzapft. Alle Versuche, die Steuerflucht von staatlicher Seite einzudämmen, müssen so scheitern. Dass dabei geplante Freihandelsabkommen gleich mit zu Grabe getragen werden und zudem auch der öffentliche Furor steigt, wird offenbar als Kollateralschaden hingenommen. Das ist der Kern des Problems, den Cook offenbar nicht sehen will.——–Von Sebastian SchmidTim Cook schimpft wegen der von Apple geforderten Steuernachzahlung über “politischen Mist”. Sein Mangel an Selbstkritik ist in vielerlei Hinsicht ein Problem.——-