Der Krawattenkönig residiert auf 20 Quadratmetern
Mehr als sechs Monate war sein Laden während der Corona-Pandemie zu. „Es war eine Qual“, sagt Maurizio Marinella, Chef des neapolitanischen Krawattenherstellers E. Marinella. „Wir haben in der Zeit eine E-Commerce-Plattform entwickelt. Sie können nun online auch in Deutschland bestellen“, fügt er hinzu. Er verzieht ein wenig das Gesicht: „Das ist wohl die Zukunft“, meint er achselzuckend.
E. Marinella ist eine Institution. Der nur knapp 20 Quadratmeter große Laden an der Küstenpromenade Via Riviera di Chiaia 287 hat viele Prominente ein und aus gehen sehen. Zu den Kunden zählten oder zählen Prinz Charles, Silvio Berlusconi, Gianni Agnelli, Barack Obama, Marcello Mastroianni, Luchino Visconti, Ex-Kanzler Gerhard Schröder und Kanzlerin Angela Merkel, die hier Halstücher kauft. Helmut Kohl ließ sich regelmäßig Binder in Überlänge kommen. Dankesschreiben zeugen von der Zufriedenheit der Prominenten.
Die Einwohner der Hafenstadt haben Marinella gleich nach dem Wahl-Neapolitaner Maradona und dem Volksschauspieler Totò zum beliebtesten Neapolitaner gewählt. Maurizio Marinella ist der Krawattenkönig, aber er ist mehr als das. Jeden Morgen um 5 steht er auf. Um 6 Uhr 5 steht er im Laden, blättert die örtliche Zeitung durch, verschickt Geburtstagswünsche. Um 6 Uhr 30 kommen die ersten Kunden, eher Bekannte, die bei ihm einen Cappuccino trinken, ein Sfogliatella, das typische Teighörnchen Neapels, verzehren, sich über Fußball, Klatsch und Tratsch austauschen. Erst gegen 9 beginnt das „eigentliche“ Geschäft, aber Marinella trennt da nicht.
Für ihn sind diese 20 Quadratmeter alles. Hier ist er aufgewachsen – im wahrsten Sinne des Wortes. Schon im Alter von 8 oder 9 stand er den ganzen Tag im Laden, sollte alles aufsaugen und hätte doch so gern mit seinen Freunden Fußball gespielt. Von der nahen Promenade blickt man auf den Vesuv, und in der Ferne liegt Capri im Dunst, aber das war alles weit weg für ihn. „Es war hart, mein Vater war streng, aber es war sehr prägend“, sagt er im Rückblick. Er studierte Wirtschaft in Neapel und übernahm den Laden. Dort steht er nun, stets untadelig gekleidet in Anzug und Krawatte. Nur an diesem Tag, mit fast 40 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit, hat selbst er den Binder abgelegt.
Gegründet hat E. Marinella vor 107 Jahren sein Großvater Eugenio. Maurizio Marinellas Sohn Alessandro soll den Laden weiterführen. Er durfte sogar in London studieren und ist in wichtige Entscheidungen eingebunden. Der 65-jährige Firmenchef wirkt jedoch längst nicht amtsmüde. Natürlich würden Krawatten heute seltener getragen als früher. Doch jüngere Leute entdeckten den Schlips wieder als Mode-Attribut. Marinella macht auch dann weiter, wenn er wegen stinkender Müllberge vor seinem Laden nur ein oder zwei Binder pro Tag verkauft oder wegen Corona schließen musste. Das Geschäft brummt wieder. Es gibt Ableger in Mailand, Rom und Tokio. Auch von einem Laden in München träumt der Krawattenkönig, der auch Tücher, Taschen und Hemden im Sortiment hat.
E. Marinella begann einst als Importeur britischer Luxus-Herrenbekleidung, die in Neapels Oberklasse sehr begehrt war. Von Spezialisten aus Paris ließ er sich zeigen, wie man Krawatten aus Seide per Hand so schneidet, füttert, näht und bügelt, dass sie die richtige Steife und Festigkeit, aber trotzdem Geschmeidigkeit zum Binden hatten. So werden die Krawatten noch heute, nur wenige Meter von seinem Laden entfernt, gefertigt, mit speziellen Seidenstoffen aus England: jeden Tag rund 150 für etwa 200 Euro pro Stück. Er könnte viel mehr verkaufen, aber es fehlt der Nachwuchs, der solche Handarbeit lernen will. Der Umsatz dürfte bald auf das Vorkrisenniveau von knapp unter 20 Mill. Euro zusteuern.
Neapel – das ist nicht nur Camorra, Kriminalität und Chaos, Pizza und Mozzarella. Neapel ist auch Marinella, und Marinella ist Neapel. Die reichen Neapolitaner wechselten früher dreimal am Tag die Garderobe, erzählt er. „Sie wussten immer, wie man sich für welchen Anlass kleidet.“ Heute nähmen sich die Kunden nicht mal mehr Zeit für die Auswahl der charakteristischen Marinella-Binder mit floralen und geometrischen Motiven, geschweige denn für einen kleinen Plausch, sagt er bedauernd.
(Börsen-Zeitung,