Der Sheriff der Wall Street schießt häufig daneben
Im Blickfeld
Der Sheriff der Wall Street schießt häufig daneben
Die US-Börsenaufsicht SEC verhängt unter ihrem Vorsitzenden Gary Gensler rekordhohe Geldstrafen und stößt ambitionierte Regulierungsprojekte an. Doch zunehmend häufiger feuert sie dabei folgenschwere Fehlschüsse ab.
Von Alex Wehnert, New York
An einem kalten und bewölkten Frühjahrsmorgen im Jahr 2021 reitet ein neuer Sheriff in die Stadt ein. Gary Gensler macht nach seinem Amtsantritt als Chef der US-Börsenaufsicht SEC vor zweieinhalb Jahren schnell klar, dass er mit harter Hand gegen Regulierungsvorstöße vorzugehen plant. Unter Genslers Führung setzt die Behörde den Investorenschutz ganz oben auf die Agenda und beginnt, im Rekordtempo Vollstreckungsmaßnahmen anzustoßen. Im Fiskaljahr 2022 verhängt die SEC Geldstrafen im Volumen von 6,44 Mrd. Dollar – mit Abstand das höchste Niveau jemals.
Allerdings macht Gensler bei nachträglichen Sanktionsmaßnahmen gegen Finanzdienstleister und Großinvestoren nicht halt. Vielmehr nimmt der heute 65-Jährige mit umfangreichen Neuregulierungen ganze Marktsegmente und Branchen aufs Korn – darunter den Aktienhandel, Geldmarktfonds, Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften sowie insbesondere den Digital-Assets-Sektor.
Regulierung im Rekordtempo
Laut einer Aufstellung der Forschungsorganisation Committee on Capital Markets Regulation macht die SEC zwischen Genslers Amtsantritt am 17. April 2021 und dem 15. August des laufenden Jahres 47 Regulierungsvorschläge, die Marktteilnehmer substanziell betreffen, und übernimmt 22 davon. Auf solche Werte kommt keiner der drei anderen Aufsichtschefs seit Mary Schapiro, die der Behörde zwischen 2009 und 2012 vorstand und deren Reaktion auf die Finanzkrise verantwortet.
Doch zeigt sich inzwischen: Je mehr schwere Geschütze der Sheriff der Wall Street auffährt, desto häufiger schießt er daneben. Den jüngsten Rückschlag für seine konfrontative Regulierungsstrategie erfährt Gensler Ende August, als ein US-Berufungsgericht einen ablehnenden Bescheid der SEC zu einem Spotmarkt-basierten Bitcoin-ETF der Investmentgesellschaft Grayscale aufhebt. Die Börsenaufsicht kritisiert bei ihrem Veto im Juni 2022, dass die Listingpläne nicht genügend Vorkehrungen zum Schutz vor Betrug und Marktmanipulation enthielten. Grayscale reicht darauf Klage ein.
Inzwischen hat die Aufsicht über 30 Anträge auf Freigabe ähnlicher Indexfonds abgelehnt und dabei stets auf die geringe Liquidität, hohe Volatilität und starke Manipulationsanfälligkeit des Spotmarktes verwiesen. All diese Bescheide drohen nach dem Urteil im Fall Grayscale zu wackeln. Die Richter bezeichnen das Vorgehen des SEC als "willkürlich und launisch". Damit nehmen sie auch Bezug auf einen seltenen Moment der Nachgiebigkeit des sonst so stahlharten Sheriffs der Wall Street.
Denn im Oktober 2021 erteilt die SEC Futures-basierten Bitcoin-Indexfonds die Freigabe. Allerdings gilt am US-Finanzmarkt der Rechtsgrundsatz, dass ähnliche Produkte auch kongruent zu regulieren sind. Die Richter folgen dem: Die SEC habe nicht zufriedenstellend begründet, warum sie Spot-ETFs anders behandle als Futures-Vehikel. Denn wie Grayscale betont, basieren die für Bitcoin-Terminkontrakte genutzten Wechselkurse direkt auf Daten von Kryptobörsen. Volatilität und Manipulationsversuche im Spotmarkt wirkten sich damit auch auf die Futures-Börsen aus. Warum am Terminmarkt ein höheres Maß an Investorenschutz möglich sein sollte, erschließe sich also nicht.
Entscheidungen verschoben
Die SEC kann zwar eine neue Anhörung fordern, dürfte laut Wirtschaftskanzleien aber gezwungen sein, den Antrag von Grayscale neu zu prüfen. Zudem sollte sie binnen weniger Tage Beschlüsse zu Registrierungen mehrerer Spot-Bitcoin-ETFs auch großer Vermögensverwalter wie Blackrock fällen, hat diesbezügliche Entscheidungen nun aber verschoben.
Der jüngste Fehlschuss steht symptomatisch für die Probleme, die sich auch in anderen Marktsegmenten auftun. So verfolgt die SEC laut Investorenschützern zwar hehre Ziele, untergrabe ihre Position aber durch übermäßig ambitionierte oder impulshafte Regeln und sei dann gezwungen, zurückzurudern oder umfangreiche Kompromisse einzugehen. So geschehen auch bei einer Ende August beschlossenen Neuregulierung von Private Equity und Hedgefonds.
Regelwerk abgeschwächt
Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften müssen Investoren nun vierteljährlich über die Entwicklung der Gebühren und der Ausgabenstruktur sowie die Performance informieren. Zudem werden Fondsberater verpflichtet, jedes Privatvehikel aus ihrem Angebot einem jährlichen Audit zu unterziehen. Auch will die SEC eine Ungleichbehandlung von Investoren verhindern. So schränkt die Behörde die Möglichkeit sogenannter "Side Letters" ein. Über diese konnten Anbieter von Private Funds bisher Nebenabsprachen mit Großinvestoren treffen, um diesen attraktivere Konditionen zu bieten – darunter ein größeres Informationsangebot und eine höhere Flexibilität bei der Rückgabe von Fondsanteilen.
Künftig sollen solche Nebenabsprachen gemäß SEC-Mitteilung nicht mehr möglich sein, wenn dadurch "materielle negative Effekte" für andere Investoren entstehen. Die Formulierung ist ein Beispiel dafür, wie die Aufsicht das Regelwerk gegenüber der 2022 vorgeschlagenen Form abgemildert hat. Um Neuverhandlungen der Vereinbarungen für bestehende Fonds zu vermeiden, sollen die Fondsanbieter zudem viele bereits getroffene Absprachen übernehmen können.
CLOs ausgenommen
Ursprüngliche Pläne, nach denen Fondsmanager keine Gebühren für noch nicht erbrachte Dienstleistungen hätten verlangen können, fehlen in der finalen Version des Regelwerks zudem. Auch Investitionen von Alternatives-Managern in Collateralized Loan Obligations (CLOs), in denen eine Vielzahl an Krediten gepoolt wird, sind von den neuen Offenlegungspflichten ausgenommen.
Eine 2022 angestoßene Reform des Aktienhandels droht aufgrund des Widerstands von Brokern und Handelsdienstleistern ebenfalls nur in abgeschwächter Form umsetzbar zu sein. Marktteilnehmer reiben sich an der Einführung eines Einzelorderwettbewerbs, mit der die SEC die Praxis des Payment for Orderflow (PFOF) einschränken will. In deren Rahmen erhalten Broker pauschale Vergütungen dafür, dass sie Orders an Handelsdienstleister leiten. Gensler argumentiert, dass Broker in Versuchung geraten, einzelne Orders gemäß der Höhe der Pauschalvergütungen zu leiten und die Ausführungsqualität dabei hintanzustellen.
Kontraproduktive Reform
Kritiker von Genslers Plan zur Neuregulierung fürchten: Im Einzelauktionswettbewerb würde es im Vergleich zum Pauschalvergütungssystem für Handelsdienstleister unattraktiver, sich bei illiquiden Aktien auf die Orderausführung zu bewerben. Damit dürfte bei solchen Auktionen auch die Preisfindung ineffizienter ablaufen. Zugleich fehlten den Brokern Einnahmen aus dem PFOF, die sie an anderer Stelle zulasten von Privatanlegern hereinholen müssten. Der Regulierungsplan enthält zwar zahlreiche weitere Punkte, die für eine gerechtere Orderausführung sorgen sollen. Doch weil die Aufsicht mit dem PFOF eine zentrale Geschäftsgrundlage von Brokern und Handelsdienstleistern zu beschneiden droht, gehen sie gegen das gesamte Regulierungsprojekt auf die Barrikaden.
Genslers Überambition drückt sich auch indirekt in der Bilanz des Committee on Capital Markets Regulation zu den SEC-Chefs aus. Bei dieser sind finale Regeln, die aus Reformvorschlägen der Amtsvorgänger entstanden, ebenso herausgerechnet wie Bescheide zu internen Vorgängen der Aufsicht und Prozesse, bei denen die Behörde als Juniorpartner beteiligt ist. Wer diese jedoch einbezieht, kommt für Gensler auf eine deutlich geringere Quote umgesetzter Regulierungsvorschläge als für jeden seiner vier direkten Vorgänger.
Politischer Druck steigt
Die Misserfolge bringen dem Aufsichtschef nun politischen Druck ein. Denn nur ein geringer Teil seiner Projekte ist durch den US-Kongress vorgegeben. Zugleich hat die SEC für das Fiskaljahr 2024 infolge steigender Auslastung ein Budget von 2,436 Mrd. Dollar beantragt. Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus kritisieren, die Summe liege 265 Mill. Dollar über dem aktuellen Niveau. Damit stelle die SEC ein Paradebeispiel für die aufgeblähten Budgets innerhalb des Regierungsapparats dar. Nach Jahren der Mittelerhöhungen reflektiere die Aufsicht ihr Vorgehen nicht mehr ausreichend. Für den Sheriff der Wall Street ist nun wohl die Zeit gekommen, genauer zu zielen.