Unterm Strich

Die Anmaßung der Klima-Richter

Das Shell-Urteil sendet ein falsches Signal: Klimapolitik ist nicht Aufgabe von Gerichten, sondern von Parlamenten und Regierungen.

Die Anmaßung der Klima-Richter

„Zeitenwende“, „historisches Urteil“ und „Präzedenzfall“, so lauteten die meisten Kommentare zu jenem Urteil, mit dem das Bezirksgericht in Den Haag vor wenigen Tagen den Ölkonzern Shell dazu verdonnerte, seine CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45% gegenüber dem Stand von 2019 reduzieren zu müssen. Das selbst gesetzte Ziel des Ölmultis, den Treibhausgasausstoß bis 2030 um 20% zu reduzieren und bis 2050 klimaneutral zu werden, reiche nicht und sei zu wenig konkret, so die Begründung des Urteils, gegen das Shell Berufung einlegen will.

Shell-Urteil kein Präzedenzfall

Bei aller Begeisterung der in erster Instanz mit ihrer Klage erfolgreichen Umweltschützer – ein Präzedenzfall dürfte und sollte dieses Urteil nicht werden. Es ist kein Zufall, dass dieses Urteil in den Niederlanden erstritten wurde. Dort liegt fast ein Drittel des Landes unter dem Meeresspiegel, haben also Klimaerwärmung und ein nur wenig höherer Meeresspiegel sehr schnell gravierende Folgen. Schon jetzt kostet der Klimawandel jeden Niederländer Geld, indem die Wassersteuer zur Regulierung der Polder und zum Schutz vor Überschwemmungen steigt. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass das Gericht eine im niederländischen Recht bestehende zivilrechtliche Generalklausel zum Verhalten im Geschäftsleben auch auf die Ziele des Pariser Klimaabkommens be­zieht und die Einhaltung der dafür als nötig erachteten Emissionsreduzierung einfordert.

Einen solch grundsätzlichen Eingriff in die Geschäftspolitik eines privaten Unternehmens ohne konkrete Gesetzesgrundlage und ohne Gesetzesverstoß mögen Umweltaktivisten als Signal für den Klimaschutz werten. Vor allem ist er ein Warnsignal für Beliebigkeit und fehlende Verlässlichkeit. Und hoffentlich wird es kein Präzedenzfall und wird auf andere Länder und dort anhängige oder noch folgende Klimaschutzverfahren übertragen. Denn Klimapolitik ist nicht Aufgabe der Gerichte, sondern des Gesetzgebers. Und in der Umsetzung dann Aufgabe der Regierungen. Dass die Exekutive an diese Umsetzung mitunter erinnert werden muss, wie jüngst die deutsche Regierung vom Bundesverfassungsgericht beim Klimaschutzgesetz, ist ein anderes Thema.

Wenn Unternehmen nur die gesetzlichen Mindestanforderungen erfüllen, ist das nicht strafbar. Ob solche Unternehmen politisch klug und unternehmerisch richtig handeln, steht auf einem anderen Blatt. In einem demokratischen Rechtsstaat mit marktwirtschaftlicher Ordnung gibt es ausreichend Sanktions- und Anreizmechanismen, damit Unternehmen mehr als nur die Mindeststandards erfüllen. Wie das funktionieren kann, ist gerade bei einem anderen Aufregerthema der zurückliegenden Woche zu beobachten gewesen, als in den USA der Erdölriese ExxonMobil von seinen Aktionären einen kräftigen Schuss vor den Bug bekam.

Was der Fall Exxon lehrt

Orchestriert vom kleinen aktivistischen Hedgefonds „Engine No. 1“ haben die großen institutionellen Investoren BlackRock, Vanguard, kalifornische Pensionsfonds sowie die Stimmrechtsberater Glass Lewis und ISS in der Hauptversammlung die Wahl von Umweltaktivisten in den Board durchgesetzt und damit den Weg für strategische Veränderungen in Richtung Klimaschutz und alternative Energie geebnet. Grund für die Revolte der Eigentümer war gewesen, dass das alte Management schlichtweg ignorierte, dass sich mit dem Wechsel im US-Präsidentenamt vom Erdölfanatiker Donald Trump zu Joe Biden, mit dem Wiederbeitritt der USA zum Pariser Klimaabkommen sowie der Abkehr der großen Investoren von rein finanziellen Zielen zugunsten nachhaltiger und klimafreundlicher ESG-Kriterien die Rahmenbedingungen für ExxonMobil völlig verändert hatten.

Doch anders als Exxon zählt Shell seit Jahren zu den Klimaschutz-Vorreitern unter den Ölkonzernen und investiert Milliarden in die Transformation des Geschäfts hin zu erneuerbarer Energie. Wer, wenn nicht die Öl- und Gaskonzerne, hat das Know-how, die finanziellen Mittel, die Kundenbeziehungen und den wirtschaftlichen Anreiz, den Wandel vom fossilen Zeitalter zu „grünen“ Brennstoffen und CO2-neutraler Energiegewinnung zu schaffen?

Wenn Shell nun durch das Gerichtsurteil gezwungen würde, innerhalb kurzer Zeit Produktion und Verkauf fossiler Brennstoffe beinahe zu halbieren, wäre dem Anliegen Klimaschutz nur vordergründig geholfen. Denn die weltweite Nachfrage kann das niederländische Bezirksgericht schwerlich verbieten. Sie wird dann von anderen Anbietern befriedigt – und am CO2-Ausstoß ändert sich nichts. Eher das Gegenteil ist zu befürchten, wenn diese anderen Anbieter die damit erzielten Gewinne nicht in den Ausbau von Solarfeldern und Windparks investieren, sondern in die Exploration neuer Erdölfelder und Raffinerien.

Es gibt nicht nur Klimaziele

Über die Geschwindigkeit von nötigen Veränderungsprozessen lässt sich trefflich streiten. Am Ende müssen in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden. Beispielsweise müssen Regierungen Klimaschutz und soziale Fragen wie die Arbeitsplatzsicherheit gegeneinander abwägen, wie in Deutschland beim Kohleausstieg geschehen, und müssen Unternehmensleitungen die Stakeholderinteressen unter einen Hut bringen. Dass sich Gerichte anmaßen zu wissen, welche Umweltbedingungen in den Jahren 2030 oder 2050 in einem Land oder weltweit herrschen sollten und welche Maßnahmen geeignet sind, bestimmte Bedingungen herbeizuführen und beispielsweise die Erderwärmung in 10, 20 oder 50 Jahren zu begrenzen, erinnert mehr an Ideologie als an Rechtsprechung. Auch im Klimaschutz muss die Politik den Rahmen setzen und Gesetze erlassen, kontrollieren Gerichte deren Einhaltung. Demokratische politische Prozesse durch Gerichtsurteile abkürzen oder gar ersetzen zu wollen, ist ein falscher und gefährlicher Weg.

c.doering@boersen-zeitung.de