Die Hauptstadt der Laubenpieper
Notiert in Berlin
Die Hauptstadt der Laubenpieper
Von Andreas Heitker
Der Besuch im Ruhrgebiet zu Wochenbeginn sollte für Olaf Scholz eigentlich ein Wohlfühltermin zum Ende der Sommerpause werden. Und als Höhepunkt waren zum Abschluss schöne Bilder in der preisgekrönten Kleingartenanlage „Am Schellenberg“ in Castrop-Rauxel mit Laubenpiepern und Grillwürstchen geplant. Kleingärten seien wichtig für die Stadtentwicklung, begründete die Bundesregierung den Besuch. „Als hochwertiges Stadtgrün haben sie einen positiven Einfluss auf Ökologie, Klimaschutz und Stadtklima.“ Dass es dann keine Wohlfühlreise wurde, ist bekannt. Die Bilder des Tages zeigten den Kanzler im schwarzen Anzug, wie er in Solingen der Opfer der Messerattacke gedachte. Der Besuch der Lauben wurde zwar nicht gestrichen – er fand aber im Stillen statt. Alles andere wäre wohl als pietätlos kritisiert worden.
Ohnehin hätte Olaf Scholz ein solches Event gleich an seinem Amtssitz planen können. Denn nirgends in Deutschland gibt es so viele Schrebergärten, Lauben und Datschen wie in Berlin. 71.000 sollen es derzeit sein. Der Bundesverband der Kleingartenvereine (BKD) zählt zwar ein paar weniger. Aber Leipzig und Hamburg auf Platz 2 und 3 kommen gerade einmal auf 39.000 beziehungsweise 32.000. Rund die Hälfte der Kleingärten ist ohnehin in den ostdeutschen Bundesländern zu finden (ohne Berlin). Eine West-Großstadt wie Düsseldorf hat weniger als 7.000 Parzellen im Angebot.
Seinen Anfang nahm das Ganze übrigens in der Leipziger Westvorstadt, wo vor genau 160 Jahren der erste Schreberverein gegründet wurde. Den Anstoß gab der Arzt und Orthopäde Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber, der sich für die Errichtung von Spiel- und Sportstätten von Kindern starkmachte. Daraus entstand die Schreberbewegung. Im Deutschen Kleingärtnermuseum in Leipzig ist dem Jubiläum aktuell eine Sonderausstellung gewidmet.
Lange Wartelisten der Gartenfreunde
Heute gibt es einen regelrechten Run auf die günstigen Kleinoasen. Das piefige Image von Vereinsmeierei und Gartenzwergen ist weitgehend verschwunden. Die Hipster sind längst auf das Urban Gardening angesprungen, Familien mit Kindern ohnehin. Spätestens seit Corona werden die Wartelisten immer länger. In Berlin, wo 2023 etwa 19.000 Bewerber gezählt wurden, beträgt die durchschnittliche Wartezeit für eine Laube aktuell rund fünf Jahre. In beliebten Innenstadtlagen sind es Minimum eher sieben. Berichte, wonach Gartenfreunde mittlerweile Abstandzahlungen von zum Teil über 80.000 Euro anbieten, um schneller an ihr Glück zu kommen, sind daher nicht verwunderlich.
Einen Tag nach dem Scholz-Besuch in Castrop-Rauxel weihte seine Bauministerin Clara Geywitz ein neues Bundeszentrum des BKD im Berliner Stadtteil Neukölln ein. Die Gärten seien ein unverzichtbarer Beitrag für Stadtklima, Biodiversität und soziale Integration, sagte die Sozialdemokratin den 150 Gästen. Die Politik hat die potenzielle Wählerschaft in den Datschen mittlerweile auch entdeckt.