Madrid

Die Havarie des Brexit in Gibraltar

Ein Schiffsunglück mit Folgen für die Umwelt hat in Spanien eine Debatte über die Hoheitsrechte über die Küstengewässer der britischen Kronkolonie bewirkt. Über einen neuen Status des berühmten Affenfelsens wird heiß debattiert.

Die Havarie des Brexit in Gibraltar

Das berüchtigte Sommerloch in der spanischen Medienlandschaft war schon fast vorüber, da kam es doch noch zu dem klassischen Aufregerthema, das in der nachrichtenarmen Zeit nicht fehlen darf: die Debatte über Gibraltar. Jahr für Jahr bietet sich ein Anlass, damit Spanier und Briten in dem 300 Jahre alten Streit um die Hoheitsansprüche auf den Affenfelsen an der Südspitze der Iberischen Halbinsel eifrig ihre Interessen und Forderungen aufwärmen. Passieren tut dabei natürlich nichts, und das Thema ist mit dem Ende der Ferien auch schnell vom Tisch.

Der Ursprung der diesjährigen Gibraltar-Debatte war sogar ernster als gewöhnlich. Ende August kollidierten zwei Frachtschiffe unmittelbar vor der britischen Kronkolonie. Eines der beiden Boote sank und Schweröl trat aus. Mittlerweile haben die Behörden das meiste abgesaugt, aber die Kritik am Umgang mit dem Unfall war massiv. Die Organisation Greenpeace prangerte ganz allgemein die umweltschädliche Rolle Gibraltars als „Low-Cost-Tankstelle“ an. In der Tat lockt die Kolonie mit günstigem Sprit unter anderem Kreuzfahrtschiffe zum Auftanken in die Bucht von Algeciras.

Das fragwürdige Krisenmanagement lieferte den eifrigsten Verfechtern der spanischen Hoheitsansprüche auf Gibraltar reichlich Munition. Die rechtsextreme Vox und konservative Medien verlangten, dass Spanien die Kontrolle über die Gewässer um den Felsen übernehmen müsse, um derartige Umweltkatastrophen vermeiden zu können. Einmal mehr – das gehört zum Sommerritual hinzu – schauten Experten genau in den Vertrag von Utrecht von 1713, in dem der kleine Hafen an dem prominenten Felsen infolge des Spanischen Erbfolgekriegs an Großbritannien ging. Das Schriftwerk bezieht sich ausschließlich auf den Felsen samt Festung und Hafen. Die Gewässer darum werden nicht erwähnt, was für manche spanischen Patrioten einzig und allein den Schluss zulässt, dass die Briten keine Hoheitsansprüche jenseits der Hafenmauer haben.

Denkbar, aber unwahrscheinlich, dass die Frage der Kontrolle über die Küstengewässer in die laufenden Verhandlungen zwischen London und Madrid einfließen könnte. Denn die Sache ist schon komplex genug. Seit zwei Jahren laufen stotternde Gespräche der beiden Länder und der Europäischen Kommission, um den Status Gibraltars nach dem Brexit festzulegen. Wie bei der ungeklärten Lösung für Nordirland stellt sich nämlich auch in Südspanien die Frage über den Umgang mit einer Landgrenze zwischen britischem Hoheitsgebiet und der Europäischen Union.

Gibraltar ist mit seinem Finanz- und Dienstleistungszentrum der Wirtschaftsmotor in der strukturschwachen Gegend um die Bucht von Algeciras, die rund 300000 Einwohner zählt. Täglich pendeln Zehntausende über den Flughafen in den kleinen Ort mit mediterranem Flair und klassischen roten Telefonhäuschen. Damit dieser Grenzverkehr ungestört weitergeht, sind Residenten und solche, die in Gibraltar arbeiten, von Kontrollen ausgenommen. Britische Touristen und Reisende, die über die Kolonie an die spanische Costa del Sol fahren, sind dagegen den üblichen Checks beim Grenzübergang zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ausgesetzt. Die Regierungen in Madrid und London verhandeln nun über eine dauerhafte Lösung, um die „gemeinsame Wohlstandszone“ vor den Folgen des Brexit zu schützen.

Im Gespräch sind etwa gemeinsame Kon­trollen an der Außengrenze, also an Hafen und Flughafen. Die Kolonie soll demnach dem Schengenraum beitreten, was vor dem Brexit nicht zur Debatte stand. Zur Erklärung für die Verzögerung der Verhandlungen werden die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg in der Ukraine vorgeschoben. Aber die Führungswechsel und die erratische Europapolitik der britischen Konservativen waren ebenso wenig hilfreich. Der abgetretene britische Premierminister Boris Johnson hatte die britische Hoheit über Gibraltar bekräftigt und den Ort offiziell zu einer britischen Stadt erklärt. Ansonsten schlachtete der Populist dieses dankbare Thema jedoch kaum für seine Zwecke aus. Nachfolgerin Liz Truss dürfte zunächst ebenfalls andere Sorgen haben als die Zukunft Gibraltars.

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