Europäische Union

Die neuen Debatten um Grundrechte und Verträge

Sonntag startet mit einem Jahr Verspätung die „Konferenz zur Zukunft Europas“, die erstmals seit rund 20 Jahren institutionelle Reformen der EU ausloten soll. Eine erste Idee kommt ausgerechnet vom Krimiautor Ferdinand von Schirach.

Die neuen Debatten um Grundrechte und Verträge

Dass das neue Buch des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach seit Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste steht, ist eigentlich verwunderlich. Klar, von Schirach hat schon viele Bestseller geschrieben, aber mit „Jeder Mensch“ hat er sein bisheriges Erzählterrain verlassen und ist plötzlich unter die politischen Aktivisten gegangen. In dem schmalen 31-Seiten-Bändchen, das für 5 Euro verkauft wird, macht sich der Berliner Anwalt nämlich für eine neue europäische Grundrechte-Charta stark. Dabei schlägt er den Bogen von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich bis zur 2009 in Kraft getretenen Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Von Schirach bringt sechs neue Grundrechte auf die Agenda, die sich um Themen wie Umwelt, digitale Selbstbestimmung, künstliche Intelligenz und Globalisierung drehen. „Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben“, heißt es zum Abschluss. Von Schirach verweist darauf, dass die Menschen heute ganz neuen Gefahren ausgesetzt seien, die es mit der Charta zu schützen gelte. Mütter und Väter der alten Verfassungen in Europa hätten weder Internet noch die so­genannten sozialen Medien ge­kannt und auch nichts von der Macht von Algorithmen, der künstlichen Intelligenz und dem Klimawandel geahnt. In Interviews be­gründete von Schirach seinen Vorstoß zugleich mit der Erosion der EU in den Zeiten der Pandemie. Dagegen müsse man jetzt etwas tun.

Begleitend zum Büchlein gibt es im Internet bereits eine Petition für die neuen Grundrechte, die mittlerweile mehr als 191000 Menschen unterzeichnet haben. Prominente wie der Schauspieler Lars Eidinger oder der Comedian Kurt Krömer unterstützen die Kampagne mit Videos. Von Schirach scheint einen Nerv der Zeit getroffen zu haben, was vor dem Hintergrund der „Konferenz zur Zukunft Europas“, die am Sonntag mit einem Festakt in Straßburg offiziell eröffnet wird, nicht unerheblich ist. Hier wie dort geht es um mehr Bürgerbeteiligung in der EU-Politik, um eine stärkere Demokratisierung der europäischen Prozesse und um mögliche Vertragsänderungen, die dem Zusammenleben in Europa künftig einen neuen rechtlichen Rahmen geben. Dass es auch Kritik gibt, damit muss Erfolgsautor von Schirach leben. „Spiegel“-Kolumnist Thomas Fischer, früherer Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, verwies etwa darauf, dass mit den wenigen Seiten der Raum doch etwas eng sei, „um die europäische Welt einmal wirklich neu zu erklären oder sich ein bisschen genauer dazu zu äußern, wie man die warme Luft aus Berlin in eine europäische Maschine hineinbekommen könnte“. Fischers vernichtendes Urteil: „Jeder Mensch“ brauche kein Mensch.

Im Internet haben unterdessen die Debatten rund um die seit gut zwei Wochen in 24 Sprachen freigeschaltete Plattform der „Konferenz zur Zukunft Europas“ und unter den dazugehörenden Social-Media-Hashtags #CoFoE bzw. #DieZukunftGehörtDir längst begonnen. Allein auf der Webseite haben sich mittlerweile rund 7600 Teilnehmer registriert. 1500 Ideen zur Verbesserung der EU wurden schon eingestellt und 400 Veranstaltungen. Besonders rege Beteiligungen wurden in Deutschland, Frankreich und Belgien verzeichnet. Zwei Drittel der Registrierungen kamen übrigens von Männern. Der Freiburger Thinktank Centrum für Europäische Politik (Cep) bleibt trotz des regen Interesses skeptisch: EU-weit sei nur eine knappe Mehrheit der Menschen überhaupt bereit, sich persönlich an den Aktivitäten im Rahmen der Zukunftskonferenz tatsächlich zu beteiligen, heißt es in einer neuen Analyse. Zudem seien diese Formen der partizipativen Demokratie, die mit der Konferenz verknüpft würden, nicht ohne Risiko, warnt das Cep: „Denn in dem Augenblick, in dem die Erwartungen der Bürger geweckt und gesteigert werden, entsteht Enttäuschung, wenn keine konkreten Ergebnisse erzielt werden könnten.“ Ergebnisse sollen in einem Jahr vorliegen. Warten wir es ab.

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