Notiert in Moskau

Die Russen werden dicker

Der russische Body-Mass-Index beginnt die Behörden zu beschäftigen. Angesichts anderer akuter Schwierigkeiten ist das freilich noch ein Luxusproblem.

Die Russen werden dicker

Notiert in Moskau

Die Russen werden dicker

Von Eduard Steiner

Unter den Daten, die die Welt eigentlich nicht bewegen, ist uns dieser Tage die Gewichtsveränderung bei den Russen ins Auge gesprungen. Nicht schlanker sind diese geworden, was angesichts jahrelanger wirtschaftlicher Stagnation, Sanktionen, Krieg und anderer Stressmomente vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Nein, dicker wurden sie. Wie das staatliche Statistikamt Rosstat bekannt gab, ist bei den Erwachsenen über 19 Jahren der Anteil derer, die ein Übergewicht (also Prä-Adipositas mit einem Body-Mass-Index von 25 bis 29,9 kg/m2) aufweisen, innerhalb von fünf Jahren von 40,1 auf 43,9% im vergangenen Jahr gestiegen. Derweil ging der Anteil derer mit Durchschnittsgewicht, also einem Body-Mass-Index von 18,5 bis 24,9, um 1 Prozentpunkt auf 35,7% zurück. Aber auch der Anteil der schwer Übergewichtigen (ab Body-Mass-Index 30) ging zurück – um 2,5 Prozentpunkte auf 19,1%. Die stärksten Veränderungen zeigen Männer, bei denen der Anteil mit Normalgewicht um 3 Prozentpunkte auf 30,9% zurückging, während die Überwichtigen nun 52,4% nach zuvor 46,9% ausmachen. Russland hält sich bei den Bewertungskriterien an die Normen der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Insgesamt dürfte nach der Schätzung des stellvertretenden Gesundheitsministers Jewgeni Kamkin der Anteil der schwer Übergewichtigen ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Ein verstärkender Faktor sei die Isolation in der Corona-Pandemie gewesen. So gesehen finden sich in Russland ähnliche Phänomene wie vielerorts in dieser Welt.

Zu den vielen Phänomenen hingegen, die Russland von der Welt unterscheiden und deutlich mehr beschäftigen, gehört aktuell der extrem starke Anstieg bei den real verfügbaren Einkommen. Im zweiten Quartal dieses Jahres sind sie annualisiert um 9,6% gegenüber dem Vergleichsquartal 2023 in die Höhe geschnellt – der größte Zuwachs seit 2014 und beinahe so viel wie in der Rohstoffhausse der Jahre 2000 bis 2007. Im ersten Quartal waren es plus 6,4% nach plus 5,8% im Gesamtjahr 2023.

Als größter Einkommenstreiber gilt der Lohnzuwachs angesichts des exorbitanten Arbeitskräftemangels. Von einer „Lohnrevolution“ spricht man in russischen Expertenkreisen bereits. Der Lohn für die Soldaten im Ukraine-Krieg gilt dort wie da als Richtschnur, dazu die Löhne in der Rüstungsindustrie, mit denen man Fachleute anheuert. Und um nicht ganz auf der Strecke zu bleiben, ziehen die privaten Unternehmen inzwischen nach.

Was für die Arbeitnehmer erfreulich aussieht, ist de facto eine ziemlich ungesunde Situation, denn obwohl die Bankeinlagen der Bevölkerung rasant zunehmen, übersteigt die Konsumnachfrage das Angebot und heizt die Inflation an, so dass die Zentralbank am 26. Juli den Schlüsselzinssatz weiter von 16 auf 18% erhöhen musste. Und wohl bald weiter erhöhen wird. Nicht nur vor diesem Hintergrund nimmt sich das Problem des Body-Mass-Index geradezu mickrig aus.

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