Die Schweiz muss wieder an Negativzinsen denken
Geldpolitik
Die Schweiz muss wieder an Negativzinsen denken
Notenbank-Chef Martin Schlegel bereitet sein Land auf eine Rückkehr in den geldpolitischen Ausnahmezustand vor. Wenn kein Wunder passiert, sind Ende 2025 die Zinsen wieder negativ.
Von Dani Zulauf, Zürich
In der Schweiz zwitschern die Vögel eine Melodie von den Hausdächern, an die sich niemand gerne erinnert. Nur gut ein Jahr nachdem die Schweizerische Nationalbank (SNB) – nach sieben langen Jahren – das Negativzinsregime für beendet erklärt hatte, sind die Konturen dieses ökonomischen Unwesens am Horizont bereits wieder erkennbar.
Es gilt als ausgemacht, dass die Frankenwächter den Leitzins im Dezember zum vierten Mal im laufenden Jahr um ein Viertel Prozentpunkt auf 0,75% senken werden. Und weitere Schritte sind auf den Zinsmärkten längst eingepreist.
So sind etwa Hypotheken mit Laufzeiten von um die fünf Jahren jetzt für nur wenig mehr als 1,5% zu haben. So billig waren solche Kredite letztmals im Frühjahr 2022, als der Leitzins noch tief im Minus war. Es ist gut möglich, dass der Preis für die Festhypotheken weiter fällt, wenn sich die allgemeine Erwartung einer Rückkehr zum Negativzinsregime verfestigt. Die Untergrenze liegt mit Blick auf die früheren Erfahrungen bei etwa 1%.
„Niemand mag Negativzinsen“
Am Freitag sagte Nationalbank-Chef Martin Schlegel an der Universität Zürich auf einer öffentlichen Konferenz zur Geldpolitik: „Niemand mag Negativzinsen, auch wir nicht. Aber wenn es nötig ist, sind wir bereit, das Instrument wieder einzusetzen.“ Solche Ansagen macht kein Währungshüter ohne Absicht, erst recht nicht ein Frankenhüter. Bei der Nationalbank gelten Aussagen, die darauf abzielen, die Erwartungen über einen Horizont von Monaten oder länger zu beeinflussen, eigentlich als verpönt.
Aber genau das machte Schlegel mit seinem Vortrag, in dem er den vielen auch aus dem Ausland angereisten Ökonomen erklärte, was diese im Prinzip schon lange wissen: In Zeiten wirtschaftlicher Krisen und Verwerfung ist der Schweizer Franken eine überaus beliebte Fluchtwährung – ein zweischneidiges Schwert.
Starker Franken bereitet Probleme
Zwar macht der starke Franken Importe billiger, was natürlich jeder benzintankende Autofahrer oder jede heizölverbrennende Eigenheimbesitzerin feiert. Aber in der kleinen Schweiz, die viel exportiert und fast ebenso viel importiert, kann die Aufwertung des Franken zu einem allzu starken Rückgang der Preise führen.
Darum, so Schlegel, sei es besser für die Schweiz, wenn sie die Preisstabilität im Unterschied zu anderen Notenbanken als bewegliches Ziel mit Inflationsraten irgendwo zwischen 0% und 2% definiere. So müsse die Nationalbank nicht öfter als unbedingt nötig an der Leitzinsschraube drehen oder auf dem Devisenmarkt gegen oder für den Franken intervenieren.
Bewegliches Inflationsziel
Das bewegliche Inflationsziel sei hilfreich, die deflatorischen Kräfte im Zaum zu halten. Deren Gefahr besteht darin, dass sie sich verselbständigen und etwa Unternehmer und Konsumenten dazu verleiten, ihre Investitionen in der Erwartung fallender Preis von heute auf morgen und übermorgen verschieben. So käme das Wirtschaftswachstum zum Erliegen.
Es war kein Zufall, dass Schlegels Theorievorlesung exakt ins aktuelle Umfeld passt. In der deutschen Großindustrie sind Massentlassungen bald an der Tagesordnung und auch in anderen großen Euro-Ländern, allen voran in Frankreich, sind das Geschäftsklima und die Stimmung in der Industrie am Boden. Was, wenn die Inflation in der Eurozone plötzlich wie ein Stein zu fallen beginnt? Was, wenn auch die Teuerungsraten in der Schweiz bald wieder steil in negatives Territorium zurückfallen?
Mieten dürften fallen
Die Fragen drängen. Bald werden die jüngsten und die noch folgenden Leitzinssenkungen der SNB auch die Mieten wieder zum Sinken bringen. Ohne den verzögerten Rückgang des hypothekarischen Referenzzinssatzes, dessen Veränderungen den Ausschlag für Mietanpassungen geben, wäre die Inflation in der Schweiz wohl schon jetzt unterhalb jener 0,5%, welche die Notenbank für das zweite Quartal 2025 voraussagt. Noch liegt sie im Jahresmittel bei über einem Prozent.
Schnelles Handeln ist die Devise der Nationalbank: Damals, im Frühjahr 2022 reagierte sie rascher als andere Notenbanken auf die Rückkehr der Inflation und gewann so das Vertrauen, um im vergangenen März wieder als erste den Leitzins zu senken. „Werden Sie diese Politik der schnellen Leitzinssenkungen auch jetzt beibehalten, wenn es darum geht, einen unvermittelt steilen Rückgang der Teuerung abzubremsen?“, wollte am Freitag die Chefökonomin einer britischen Investmentfirma wissen. Profi-Investoren, aber auch Hauseigentümer, die gerade eine Hypothek erneuern müssen, können mit der richtigen Antwort auf die Frage schnell viel Geld verdienen.
Leitzins muss schnell sinken
Unter der (plausiblen) Annahme, dass sich das Konjunkturklima in Europa rasch weiter verschlechtern wird, gibt es mehrere Argumente, die für eine rasche Rückkehr des Leitzinses an die Nulllinie und darunter sprechen. Zwei davon fanden auch an besagter Konferenz Erwähnung.
Erstens sind Leitzinssenkungen das Hauptinstrument jeder Notenbank. Wer davon ausgeht, dass die Nationalbank bemüht sein könnte, die negative Preisentwicklung zuerst über den Wechselkurs zu bremsen, indem sie mit Devisenkäufen den Franken schwächt, könnte sich täuschen. Tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass die Wirkung von Devisenmarktinterventionen dann am stärksten ist, wenn die Möglichkeiten beim Leitzins ausgeschöpft sind. Entsprechende Bemerkungen waren schon im Sommer von SNB-Vize Antoine Martin zu vernehmen.
Zweitens zeigte Marc Giannoni, Chefökonom von Barclays, auf, dass die Inflationsprognosen der Nationalbank schon seit längerer Zeit der Realität hinterherhinken. Quartal für Quartal muss die SNB feststellen, dass die (um Sondereffekte wie die besagten Mieten) bereinigte Teuerung schneller fällt als die Leitzinsen sinken. Diese Differenz führt dazu, dass die (inflationsbereinigten) Realzinsen tendenziell steigen, obschon sie im aktuell eher rezessiven Konjunkturklima sinken und die negative Preisentwicklung stimulieren müsste. Die Nationalbank ist offensichtlich dabei, das Land auf ein Comeback der Negativzinsen vorzubereiten. Martin Schlegel hätte sich als ersten großen Job in seiner neuen Funktion als Nationalbank-Chef und Nachfolger von Thomas Jordan eine dankbarere Aufgabe gewünscht. So sicher wie diese Annahme sind die Prämissen in den SNB-Modellen leider nie.