Mentale Gesundheit

Die stille Krise

Psychische Erkrankungen nehmen rasant zu. Die Folgen werden auch ökonomisch noch völlig unterschätzt.

Die stille Krise

Die Zahlen des Mental Health Report, den der Versicherer Axa in der vergangenen Woche veröffentlichte, waren erschreckend: 41 % der 18- bis 34-jährigen Frauen in Deutschland sagen, sie seien aktuell psychisch erkrankt. Sie leiden vor allem unter Depressionen, Angst- und Essstörungen. Nur eine Minderheit der Deutschen (38%) blickt noch optimistisch in die Zukunft, auch das zeigte die repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos im Auftrag der Axa. Ukraine-Krieg, Inflation, Corona-Folgen, Klimakrise, aber vor allem auch sozialer und beruflicher Stress sind Treiber einer zunehmend ausgebrannten Gesellschaft. Und während früher vor allem Ältere an Depressionen erkrankten, sind jetzt viele jüngere Menschen betroffen. Doch obwohl die Zahlen alarmierend sind, generieren sie kaum Aufmerksamkeit.

Die Krise ist eine stille, doch sie verschärft sich gerade in unglaublichem Tempo. Die Krankenkassen registrierten seit Jahren eine stetige Zunahme von Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen, und durch die Pandemie mit den langen Lockdowns und immer noch kaum übersehbaren sozialen Folgen hat sich das Problem noch weiter aufgebaut. Die Krankenkasse KKH verzeichnete allein 2022 ein Plus von 16% bei den Krankschreibungen aufgrund von seelischen Leiden.

Wer selbst erkrankt ist oder sich um psychisch kranke Angehörige kümmern muss, dessen Leistungsfähigkeit ist mehr oder weniger stark eingeschränkt. Und das nicht nur über ein paar Tage oder Wochen, sondern nicht selten über Monate bis sogar Jahre. Neben dem persönlichen Leiden sind auch die wirtschaftlichen Folgen immens. In Unternehmen ist das Bewusstsein dafür noch viel zu wenig entwickelt. Die öffentlichen Debatten aus dem Bereich Human Resources drehen sich aktuell vor allem um den Fachkräftemangel und die Diskussion um dauerhafte Homeoffice-Regeln – und greifen damit zu kurz.

Wo bleibt der Aufschrei aus der Wirtschaft, wenn oft hoch qualifizierte Menschen monatelang auf Therapieplätze warten müssen und in der Zeit weniger oder gar nicht arbeiten können? Wenn sich die zu lange unbehandelte Krankheit noch vertieft? Die Wartezeiten für eine Psychotherapie betragen in Deutschland häufig ein halbes Jahr, länger als bei fast allen Fachärzten. Das ist nicht nur für die Betroffenen eine Katastrophe, sondern belastet auch Arbeitgeber, Kolleginnen und Kollegen.

Die volkswirtschaftlichen Kosten sind enorm: Im Jahr 2020 verursachten psychische Erkrankungen laut Statistischem Bundesamt allein direkte Krankheitskosten von 56 Mrd. Euro. Dazu kommt noch ein zweistelliger Milliardenbetrag an ausgefallener Bruttowertschöpfung. Auf psychische Erkrankungen entfielen nach den Daten der Techniker Krankenkasse 2021 die meisten Fehlzeiten – fast 22 % aller Krankheitstage. Frauen sind dabei überdurchschnittlich häufig betroffen.

Die mentale Gesundheit ihrer Beschäftigten steht bei den meisten Unternehmen jedoch bislang nicht oder nicht genug im Fokus. Das ist ein Fehler, denn gerade durch die lange Dauer psychischer Erkrankungen und die damit verbundenen Ausfallzeiten verschärft sich auch der Fachkräftemangel. Angesichts der Welle, die sich gerade aufbaut – und die nicht wie eine Pandemie nach drei Jahren auslaufen wird –, sollte das Thema jedoch schnellstens auf die Tagesordnung. Und zwar in allen Facetten: Prävention, Unterstützung und Hilfsangebote im Akut-Fall sind nötig. Hier können Unternehmen noch eine Menge tun.

Und was auch ganz wichtig ist: Es braucht eine Entstigmatisierung. Hier hat sich in den vergangenen Jahren zwar schon einiges getan. Der Suizid des früheren Fußball-Nationaltorhüters Robert Enke war ein trauriger Meilenstein, der viel in Bewegung gesetzt hat. Auch die Bekenntnisse zahlreicher Prominenter, an Depressionen zu leiden, haben zu einer breiteren Akzeptanz und Wahrnehmung psychischer Krankheiten geführt. Vor allem sind es Kulturschaffende – Schauspielerinnen, Autoren oder Comedians –, die öffentlich über ihre Erkrankung sprechen.

Doch die Wirtschaft tut sich schwer mit dem Thema. Gerade in deutschen Unternehmen sind vor allem in den Führungsetagen mentale Leiden noch meist ein Tabuthema. Psychische Erkrankungen von Topmanagern werden fast immer totgeschwiegen. Offenheit von Führenden erhöht jedoch die Akzeptanz auf allen Ebenen im Unternehmen. Am Ende hilft das nicht nur den Betroffenen, sondern dürfte sich auch für die Firmen auszahlen.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.