Die Strategie der russischen Sberbank besticht
Wenn jemand von seinem direkten Konkurrenten Blumen gestreut bekommt, muss er einiges richtig gemacht haben. Gewiss, Herman Gref, Chef von Russlands größter und staatlicher Bank Sberbank, wurde von seinem Konkurrenten Oleg Tinkow zwischenzeitlich auch mächtig gerügt, weil er angeblich vieles von der innovativen Tinkow-Online-Bank „Tinkoff“ einfach abkupfere. Aber im Vorjahr lobte der originelle Freigeist Tinkow dann den Sberbank-Chef über den grünen Klee: „Gref ist zweifellos ein talentierter Banker und der einzige, mit dem es interessant ist, zu konkurrieren! Aber mir scheint, dass es ihm im Korsett der Staatsbank eng geworden ist (…). Man müsste ihn natürlich zum Premierminister machen. Können Sie sich vorstellen, wie er das Land verändern würde?“
Großes Spektrum
Tinkows Lob kam, nachdem Gref im Herbst seine neue Strategie präsentiert und aus der Firmenbezeichnung das „Bank“ gestrichen hatte, sodass sie fortan nur noch „Sber“ heißt. Der Name ist Programm. Das Geldinstitut mit seinen über 100 Millionen Kunden soll künftig nur noch zum Teil als Finanzinstitut firmieren. Vielmehr sollte aus dem Konzern ein „ganzes Ökosystem“ an „Online-Dienstleistungen für das alltägliche Leben und das Geschäft“ entstehen, wie Gref es formulierte. Das Spektrum reicht von Mobilitätsservices wie Taxi und Carsharing über Essenszustellung bis zu Telemedizin, Online-Apotheke, Immobilien- und Jobportale, Zahlungsdienstleistung und Musikstreaming.
Hausinterner Supercomputer
Dazu kommt die zentrale Online-Market-Plattform („Sbermegamarket.ru“). Und über allem die Cloud-Services, basierend auf dem hauseigenen Supercomputer Christofari, einem der Top-40-Supercomputer der Welt. Mit seiner Hilfe werden bereits heute 40% der Kundenanfragen von Bots beantwortet und Kredite in Minutenschnelle vergeben. Der Technologie-Fokus – untermauert dadurch, dass 40000 der 280000 Mitarbeiter IT-Fachleute sind – hält die operativen Kosten niedrig. Einer Analyse der Ratingagentur Moody’s zufolge hat Sber unter den digital fortschrittlichen Banken Nord- und Westeuropas mit 34% die geringste Cost-to-Income Ratio.
Keine andere Bank der Welt vollzieht eine strategisch vergleichbare Wandlung. Ihr Ziel hat die Sber klar formuliert: bis 2023 zu einem der drei Top-Spieler im russischen E-Commerce aufzusteigen. Dafür greift der Konzern tief in die Tasche. Bis zu 350 Mrd. Rubel (4 Mrd. Euro) sollen zwischen 2021 und 2023 in den Aufbau der bankfernen Geschäftszweige investiert werden. Geld ist vorhanden. Der Konzern gilt als effizient und hochprofitabel. Im ersten Quartal wurde der Gewinn um 153% auf das Rekordniveau von 304,5 Mrd. Rubel gesteigert.
Seit Gref, zuvor russischer Wirtschaftsminister, im Jahr 2007 die Leitung der Bank übernahm, reduzierte er das dichte Filialnetz um fast ein Drittel und das Back-Office-Personal um 22%. Die harte Kernkapitalquote, CET1 Ratio, hält er seit Jahren bei deutlich über 10%. Im ersten Quartal betrug sie 14,3%. Der Konzern könne sich die Transformation zum Tech-Konzern leisten, „ohne die Schulden erhöhen zu müssen“, schreibt Moody’s.
Gewiss, die neuen Geschäftsfelder werden noch auf Jahre ein Defizitgeschäft sein. Ob die meisten bereits 2023 die Gewinnschwelle erreichen, wie das Sber-Finanzvorständin Alexandra Buriko prognostiziert, muss sich erst weisen. Beim E-Commerce könnte es bis zu fünf Jahre dauern, präzisierte Gref, im Entertainment-Bereich kürzer. Dass der Beitrag der neuen Geschäftsfelder zu den operativen Konzerneinnahmen vergangenes Jahr gerade einmal 1% betrug, ist per se wenig relevant. Sber handelt die Zukunft. 2023 sollte der Beitrag 5% ausmachen, 2030 bereits 30%. Hintergrund für diesen Optimismus ist, dass der E-Commerce in Russland noch wenig entwickelt ist, zuletzt aber rasant an Fahrt gewann. Wie die Datenanalyse-Unternehmen Infoline und Data Insight einhellig konstatieren, machte er im Vorjahr 9% am gesamten Retailhandel aus, während der Prozentsatz in den USA 15 und in China sowie in Japan sogar 28% beträgt. Jedoch sei der russische E-Commerce-Markt 2020 um 44% gewachsen und dürfte zwischen 2021 und 2024 im Schnitt jährlich um 30% zulegen.
Von diesem Kuchen will Sber ein großes Stück. Gewiss, die Konkurrenten sind nicht ohne. Drei private sind nennenswert, allen voran die Internetsuchmaschine Yandex, die so gut wie in allen Online-Services mit der Sber im Wettbewerb steht. Freilich wird Sber als staatliches Unternehmen eher Wettbewerbsvorteile als -nachteile haben, zumal es in der Kundenzufriedenheit Werte wie die US-Techriesen Amazon oder Google erzielt. Als mögliche Risiken für das Transformationsprojekt nennt Moody’s: wachsende staatliche Regulierung aufgrund der Datenfülle im künftigen Mischkonzern, steigende Attraktivität für Cyberattacken, Überforderung für das Management sowie das Damoklesschwert internationaler Sanktionen gegen russische Staatskonzerne.