Finanzindustrie in Indien

Disruptionen erschüttern Indiens Bankensystem

Die Fusion der HDFC-Mutter mit ihrer Banktochter zum weltweit viertgrößten Finanzinstitut ist ein bedeutender Meilenstein für das bevölkerungsreichste Land der Welt.

Disruptionen erschüttern Indiens Bankensystem

Disruptionen erschüttern Indiens Bankensystem

Der Aufstieg der HDFC Bank zum global viertgrößten Finanzinstitut ist ein Meilenstein

Von Martin Fritz, Tokio

Das indische Bankensystem schaltet in diesem Jahr einen Gang höher und reagiert damit auf das anhaltend hohe Wirtschaftswachstum auf dem Subkontinent. Nach mehreren Verschmelzungen von staatlichen Banken in den Vorjahren kam es soeben zum größten Zusammenschluss in der Finanzindustrie: Die HDFC Bank, die größte Privatbank mit Sitz in Mumbai, und ihr Mutterkonzern, die Housing Development Finance Corporation (HDFC), der größte private Hypothekenanbieter, schlossen sich zusammen. Mit einer Marktkapitalisierung von 172 Mrd. Dollar entstand die weltweit viertgrößte Bank hinter J.P. Morgan Chase, ICBC (China) und BoA (USA). Die Fusion zum größten Konzern Indiens hinter Reliance Industries erfolgte zum 1. Juli und endete am 13. Juli mit dem formalen Aktientausch.

Der neue Bankenriese mit 120 Millionen Kunden, knapp 180.000 Beschäftigten und über 8.000 Filialen setzt auf eine starke Nachfrage nach Finanzdienstleistungen, wenn mit Indiens Wirtschaft auch die Mittelschicht rasant wachsen wird. „Der Markt für Finanzdienstleistungen und Hypotheken, der derzeit unterversorgt und wenig erschlossen ist, wird sehr groß sein“, schrieb Sashidhar Jagdishan anlässlich der Fusion an seine Mitarbeiter. Der Bankchef will 1.500 Filialen jährlich eröffnen und die Erträge in vier Jahren verdoppeln. Dabei setzt Jagdishan auch auf Synergieeffekte durch Cross-Selling: 93% der bisherigen Kunden der HDFC Bank haben keinen Immobilienkredit, während viele Hypothekenkunden der HDFC-Mutter die Finanzdienstleistungen der HDFC-Bank nicht nutzen.

Schon nächste Woche folgt der nächste Paukenschlag: Indiens größtes Konglomerat Reliance Industries, geführt vom reichsten Inder Mukesh Ambani, spaltet am 20. Juli seine digitalen Finanzgeschäfte unter dem Namen „Jio Financial Services“ ab. Für jede Reliance-Aktie erhält die Anteilseigner eine Aktie der neuen Gesellschaft. Der Börsengang könnte im Oktober stattfinden. Das Unternehmen will mit Hilfe eigener Datenanalysen Kredite an Verbraucher und Händler vergeben und in die Bereiche Versicherung, Zahlungsverkehr, Wertpapierhandel und Vermögensverwaltung expandieren. Der Finanzdienstleister dürfte davon profitieren, dass der Telekom-Arm von Reliance über 400 Millionen Kunden hat und das Konglomerat die größte Einzelhandelskette von Indien betreibt. Ausländische Beobachter betrachten Jio Financial bereits als die indische Version des Online-Kreditgebers Ant Group in China.

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Die Geburt dieser neuen Kreditgeber ist ein großer, wenn auch evolutionärer Schritt in der Entwicklung des Bankensystems in Indien. Die damalige Premierministerin Indira Gandhi hatte alle Banken 1969 verstaatlicht, um Kredite in bevorzugte Wirtschaftssektoren zu lenken. Mit dem Ende des Nehru-Sozialismus 1993 vergab die Regierung Lizenzen für Privatbanken, aber staatliche Institute spielen bis heute eine wichtige Rolle. Die ursprüngliche HDFC wurde 1977 gegründet. Der Kreditgeber für private Hypotheken benötigte keine eigene Banklizenz und finanzierte bisher den Kauf von insgesamt 9 Millionen Wohnungen. HDFC hob die eigene Bankentochter 1994 aus der Taufe und hielt vor der Fusion noch 26% der Anteile.

Die Trennung beider Geschäfte brachte lange Zeit Vorteile ein, weil eine Bank sich zwar über ihre Einlagen günstiger finanzieren kann, aber der indische Staat strenge Vorgaben für das Eigenkapital macht und verlangt, dass 40% der Kredite in „vorrangige“ Bereiche wie die Landwirtschaft fließen müssen. Daher entstanden bald Tausende von Finanzinstituten ohne Banklizenz, die aggressiv Kredite vergaben. In den Jahren 2018/19 brachen mehrere dieser Schattenbanken zusammen. Die Regierung verschärfte darauf die regulatorischen Anforderungen, so dass sich die operativen Einschränkungen von Banken und Finanzierern kaum noch unterscheiden. Laut einer Schätzung von Jefferies zahlte die HDFC-Mutter 6% für die Finanzierung von Hypothekenkrediten, die HDFC-Bank aber nur 3,7%. Die Fusion spart HDFC also nicht unerhebliche Kosten ein und verschafft ihr einen Vorteil gegenüber den Schattenbanken. Zugleich geht es darum, die Immobilienkredite der ursprünglichen HDFC-Mutter sicherer zu machen. Durch die Verschmelzung erhält sie nämlich Zugang zu den Notfall-Liquiditätslinien der Zentralbank.

Die große Frage lautet, ob für das geplante starke Wachstum ausreichend Liquidität vorhanden sein wird. Gemäß der Investmentbank Macquarie könnte die neue Großbank in den nächsten drei bis vier Jahren bis zu 20% der zusätzlichen Einlagen des Bankensystems einsammeln und damit den Wettbewerb in der Branche erheblich verschärfen. Denn Indien ist immer noch ein relativ armes Entwicklungsland. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf betrug 2021 nur 2.257 Dollar, rund 5,5-mal weniger als in China (12.556 Dollar). Die privaten Ersparnisse, die drei Fünftel der Bankeinlagen ausmachen, kommen von relativ wenigen Gut- und Spitzenverdienern, während große Teile der Bevölkerung von der Hand in den Mund leben. Das Volumen der Hypothekenkredite entspricht daher nur 11% des Bruttoinlandsproduktes, in China sind es 25%. Doch diese relativ schmale obere Mittelschicht leidet derzeit unter der hohen Inflation und den gestiegenen Zinsen. Was übrig bleibt, bleibt nicht auf dem Bankkonto, sondern fließt in Wertpapiere.

Unterdessen verliert das traditionelle Bankensystem durch Fintech-Initiativen wie das „Unified Payments Interface“ (UPI) an Gewicht. Die offene UPI-Plattform ermöglicht kostenlose und sofortige Konto-zu-Konto-Überweisungen per QR-Code mit Fintech-Apps wie Google Play. UPI wird von allen Banken unterstützt und mitfinanziert, so dass die Nutzer die Belege ihrer Transaktionen zu jedem Kreditgeber mitnehmen können. Die Plattform erhielt durch die Covid-Angst vor Bargeld starken Zulauf und wuchs von 17% aller digitalen Transaktionen 2019 auf 52% im Jahr 2022. Das Transaktionsvolumen erreichte dabei über 1 Bill. Dollar, was einem Drittel des BIP entsprach. Der Erfolg von UPI hängt auch damit zusammen, dass die indische Regierung mit ihrem Programm „Jan Dhan Yojana“ 2014 jedem Haushalt das Recht auf ein Bankkonto gab. Die meisten dieser Konten wurden bei staatlichen Banken eröffnet.

Die UPI-Transaktionsdaten ermöglichen es Kreditgebern und Versicherern, die Kreditwürdigkeit von neuen Kunden, die sonst keine traditionelle Finanzierung bekämen, zu beurteilen. Noch steckt dieses Geschäft in den Kinderschuhen, aber es droht an den Privatbanken vorbeizugehen, während Fintechs wie die künftige Jio Financial damit stark wachsen könnten. Die Aussichten für die Megabank HDFC sind daher nicht nur rosig.