Drohendes Systemversagen
Der Mitarbeiter des Internet-Fahrradshops wirkt zerknirscht. „Entschuldige die Verzögerung und die damit verbundenen Einschränkungen“, schreibt er in seiner Mail. Die Abbitte ist angemessen, schließlich liegt die Bestellung schon dreieinhalb Wochen zurück. Eine Ewigkeit im Zeitalter des Online-Handels, und trotzdem ist der Mantel für das Mountainbike noch nicht eingetroffen. Kündigt die Mail also eine Expresssendung am nächsten Tag an? Pustekuchen. Stattdessen wird ein neuer Termin genannt. Die Ware erhalte man voraussichtlich „in 15 Wochen“. Der Grund: Der Lieferant des Shops liefert nicht.
Die Welt hat sich bereits an den Terminus „Inzidenz“ gewöhnt. Die beste Chance, eine ähnliche Karriere hinzulegen, hat das Wort „Lieferkette“. Allerorten fehlen in der Fertigung die Vorprodukte. Dabei steht der Mantel eines Fahrradreifens nicht im Verdacht, mit der Mangelware Halbleiter ausgerüstet zu sein. Ein bisschen Draht, viel Gummi, das war‘s. Trotzdem muss bis mindestens Ende Januar warten, wer dieses spezielle Modell Mitte September bestellt hat.
Die wirtschaftlichen Folgen derartiger Lieferprobleme werden intensiv diskutiert. Weniger Wachstum und mehr Inflation stehen oben auf der Liste. Dies ist angesichts der anekdotischen Evidenz der verzögerten Umsatzlegung im Fahrradmantel-Fall verständlich – zudem zahlen jene Kunden, die beim selben Onlineshop aktuell den Reifen zu bestellen wagen, 22% mehr als im September. Ökonomische Effekte sind jedoch nur die eine Seite der Medaille. Mangelwirtschaft hat auch psychologische Folgen. Kurzfristig wird sich dies in Vorratshaltung niederschlagen, mittel- und langfristig droht jedoch grundsätzlicheres Ungemach: Die Akzeptanz des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems kann sinken.
Diese Prophezeiung mag überzogen klingen. Sollten die Flaschenhälse in wenigen Monaten wieder geweitet werden können, wird das Problem tatsächlich schnell vergessen sein. Dafür spricht aber leider nichts. Denn es ist zu kurz gegriffen, die Unterbrechungen der Lieferketten nur mit Engpässen in der weltweiten Logistik zu erklären. Auch Fertigungskapazitäten werden mittelfristig wiederholt ausfallen. Die Pandemie ist an vielen kostengünstigen Produktionsstandorten nicht im Griff, in Lockdowns werden Fabriken geschlossen. Energiemangel reduziert die Kapazitäten zusätzlich. In China beispielsweise herrscht eine anhaltende Stromknappheit, die regionalen Staatsvertreter legen scheinbar willkürlich Unternehmen still. Der dritte Faktor: In vielen westlichen Staaten und perspektivisch auch in China fehlen Arbeitskräfte. Außerdem schotten die Staaten ihre Märkte zunehmend ab, auch dies verschlechtert die Versorgung. Hersteller verlegen zwar ihre Fabrikation näher an die Absatzmärkte – dieser Wandel braucht aber Zeit.
Nur weil ein Fahrradreifen auf der Strecke bleibt, ist kein Mensch mit dem Wirtschaftssystem unzufrieden. Auch die mancherorts fehlenden Papiertüten in Supermärkten lassen sich verschmerzen. Jener Manager, der sein neues Haus zumindest in diesem Jahr nicht wie geplant mit Holz verkleiden kann, wartet wahrscheinlich ohne Groll auf günstigeres Baumaterial. Wenn ein Lehrer allerdings sein Unterrichtsmaterial nicht mehr in der Schule drucken kann, weil der Toner für den Druckertyp nicht zu bekommen ist, entsteht Unverständnis. Der Spaß hört auf, wenn die Apotheken ein dringend benötigtes Medikament anders als in allen Jahren davor nicht liefern können und auch ähnliche Präparate nicht zu bekommen sind.
Selbst ein derart drastischer Einzelfall führt sicherlich kaum zur Klage über drohendes Systemversagen. Aber wer an vielerlei Ecken und Enden den Mangel zu spüren bekommt, der wird erst die Politik und dann das System in Frage stellen. Nicht sofort, nicht radikal – aber irgendwann schon. Schließlich hatte die Marktwirtschaft einst den Systemwettbewerb mit der Planwirtschaft auch deshalb gewonnen, weil sie Wohlstand und Versorgungssicherheit bot.
Das System in Deutschland ist infolge der Finanzkrise bereits in den Verdacht geraten, den Wohlstand in der Gesellschaft ungleich zugunsten der Vermögenden zu verteilen. Der Ruf nach Gerechtigkeit wird lauter. Nun droht Zweifel aufzukommen, ob das System das nötige Angebot für die derzeit hohe Nachfrage optimal bereitstellen kann. Erste Anzeichen von Ineffizienzen wurden bereits vor Jahren diskutiert als „Ende der Globalisierung“. Die Wirtschaftselite sollte nun prophylaktisch konkrete Antworten auf die grundlegenden Fragen formulieren, die auf sie zukommen können.