Ein einziges Risiko
Eine Diskussion darüber, welchem Land diverse nationale Idole zuzuordnen sind, sofern sie Migrationshintergrund haben, mag müßig erscheinen. In Russlands Fall umso mehr, als der gesamte postsowjetische Raum im Lauf der Jahrhunderte viele Grenzziehungen erlebt hat und die heutigen Staaten zwischenzeitlich in einem großen Reich zusammengefasst waren. Und doch lohnt das Gedankenexperiment, welche herausragenden Persönlichkeiten Russland nicht für sich verbuchen könnte, wären sie nicht irgendwann durch eine neue Grenzziehung „eingebürgert“ worden oder hätten sich aufgrund der – ökonomisch – besseren Möglichkeiten freiwillig nach Russland begeben. Vor allem in Hinblick auf die Ukraine ist erhellend, wer heute als Russe firmiert, obwohl er aus dem Nachbarstaat stammt.
Da ist zum einen eine Vielzahl russischer Tycoons, die die Wirtschaft des Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren bis heute wesentlich prägen. Der 56-jährige Michail Fridman etwa, mit seiner weit verzweigten Alfa Group lange Zeit einer der einflussreichsten russischen Unternehmer. 2014 übernahm er mit seinem Vehikel Letterone die Öl- und Gasgesellschaft Dea von RWE und fusionierte sie 2019 mit Wintershall. Er stammt aus dem westukrainischen Lemberg. Aus dieser Gegend kommt auch Viktor Vekselberg, Aluminium- und Ölbaron und später Anteilseigner des Schweizer Technologiekonzerns OC Oerlikon. Oder Kirill Dmitrijew, Chef von Russlands Staatsfonds für Direktinvestitionen, der die Entwicklung des Impfstoffs Sputnik V führend finanzierte und diesen nun weltweit promotet. Er wuchs in der Ukraine auf, ehe er über den Umweg der USA in Russland landete.
Die russische Wirtschaft ist das eine, die Kultur das andere. Denn auch in ihr zeigt sich, dass nicht wenige weltberühmte russische Künstler ukrainische Wurzeln haben. Sie aus der zaristischen oder sowjetischen Konkursmasse heraus als nationale Idole heute krampfhaft der Ukraine zuzuschreiben, wie das manche im jungen Staat wünschen, wäre natürlich Unsinn. Schon allein deshalb, weil etwa die Schriftsteller unter ihnen, zweisprachig aufgewachsen, auf Russisch geschrieben haben. Nikolaj Gogol etwa, Sohn eines ukrainischen Gutsbesitzers und einer der großen Autoren des 19. Jahrhunderts, der gleichzeitig sehr an der ukrainischen Kultur hing, obwohl er sie im Sinne der „Großrussen“ als „kleinrussische“ bezeichnete.
Ein gebürtiger Ukrainer ist auch der Komponist Sergej Prokofjew, dazu Michail Bulgakow, Autor des weltberühmten Romans „Der Meister und Margarita“. Nahe Kiew aufgewachsen ist zudem Kasimir Malewitsch, der Maler des „Schwarzen Quadrats“. Ähnlich wie der über Russland in die USA emigrierte 87-jährige Konzeptkünstler Ilja Kabakow. Und um die nationale Identität des großen Dramatikers und Erzählers Anton Tschechow, der später auf der Krim lebte und schließlich 1904 im deutschen Badenweiler starb, stritten sich die russische und ukrainische Regierung zwischendurch ganz demonstrativ.
Warum dieser Ausflug in die russisch-ukrainischen Identitäten? Weil mit dem Aufmarsch der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze der leidige Nachbarschaftskonflikt wieder am Aufflammen ist. Und weil ich bei der eher zufälligen Lektüre von besagtem Tschechow dieser Tage wieder einmal auf seine beliebten Schilderungen der russischen Untertanenmentalität gestoßen bin, die er nicht als Folge von Unterdrückung, sondern als Ursache des nationalen Unglücks sieht. Dargestellt etwa an einem Gymnasiallehrer, der nur mit Verboten von oben gut zurechtkam. „In einer Genehmigung aber und in einer Erlaubnis verbarg sich für ihn immer ein verdächtiges Element, etwas Unausgesprochenes und Unklares. Wenn in der Stadt eine Theaterrunde, ein Lesesaal oder eine Teestube zugelassen wurde, so schüttelte er den Kopf und sagte leise: ‚Dagegen ist natürlich nichts zu sagen, alles gut und schön, wenn sich daraus nur nicht etwas entwickelt.‘“
Verblüffend, dass knapp 120 Jahre später eine der erfolgreichsten russischen Medienmacherinnen im Gespräch mit der Börsen-Zeitung Putin selbst in etwa so beschrieb. Als Präsident des Landes hätte er die Möglichkeit, seinen Blick auf die vielen Chancen zu lenken, sagte sie. „Leider sieht er nur die Risiken.“