Ein Jahr der Entscheidung
Deutsche Industrie
Ein Jahr der Entscheidung
In der deutschen Industrie hat Problemverschleppung mitunter Tradition. Das ist in einem drastisch verschärften Wettbewerb unhaltbar.
Von Heidi Rohde
Für die deutschen Unternehmen, allen voran für die Leitindustrien des Automobil- und Chemiesektors sowie für die Stahlbranche, war 2024 ein Wendejahr – und zwar mit negativem Vorzeichen. Umsatz und Gewinn, Beschäftigung und insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit, bei alldem haben Top-Konzerne und viele – nicht alle – große und kleine Mittelständler Einbußen hinnehmen müssen. Infolgedessen mangelte es nicht an Hiobsbotschaften. Die Unternehmen drehen an der Kostenschraube, wollen Stellen abbauen und teilweise Produktion ins Ausland verlagern, denn die Bedingungen am heimischen Standort werden scharf kritisiert. Bürokratie, Arbeits- und Energiekosten sind die Dauerbrenner unter den Beschwerden. Gemeinsam ist dem ermüdenden Narrativ, dass die Unternehmen damit notorisch auf den Staat zeigen. Dabei ist zwar unter sämtlichen Experten unstrittig, dass es für die viel beschworene Wirtschaftswende auch eine Runderneuerung der Rahmenbedingungen braucht; allerdings sind die Unternehmen damit nicht aller eigenen Verantwortung enthoben.
Ernüchterndes Beispiel
Vor allem die deutschen Traditionskonzerne vermitteln nicht den Eindruck eines besonders verantwortungsvollen Umgangs mit den wachsenden Herausforderungen, die im neuen Jahr auf die Wirtschaft zukommen. Ein ernüchterndes Beispiel geben sowohl der krisengeschüttelte Stahlkocher Thyssenkrupp als auch die Automobilikone VW. Der Duisburger Industrieriese kämpft im volatilen Stahlgeschäft nicht erst seit dem jüngsten konjunkturellen Nachfrageeinbruch mit hohen Kosten und massiven Wettbewerbsnachteilen. Gleiches gilt im Grunde für VW. Auch bei dem Wolfsburger Konzern legt die akute Nachfrageschwäche auf dem deutschen und europäischen E-Automarkt die eigenen länger bestehenden Versäumnisse offen.
Zweifelhafter Kompromiss
Dies kann bei näherer Betrachtung kaum überraschen, denn beide Unternehmen folgen einem über Jahre etablierten Muster der Problemverschleppung: im Angesicht einer eskalierenden operativen Misere schlägt der Vorstand Alarm, es folgt eine öffentlichkeitswirksame Zerreißprobe im Gefecht mit der Belegschaft, am Ende steht ein zweifelhafter Kompromiss mit großen Worten – wahlweise Zukunftskonzept oder -pakt – und noch größeren Zahlen, die die notwendigen Einschnitte repräsentieren. Allein bei der Umsetzung hapert es häufig: die Ausgliederung der Stahlsparte bei Thyssenkrupp, deren Aufstellung die Existenz des Gesamtkonzerns gefährdet, zieht sich seit Jahren hin, ebenso wie ein Stellenabbau auf freiwilliger Basis bei VW, der zum wiederholten Mal in Angriff genommen wird.
Krise der Sozialpartnerschaft
Die Beispiele machen deutlich, dass die viel gerühmte deutsche Sozialpartnerschaft in ihrer tradierten Form an ihre Grenzen kommt. Solange es bei Krisen in einer Industrie primär um eine temporäre zyklische Marktschwäche ging, ließen sich gesichtswahrend Ersparnisse aushandeln – für eine kurze Durststrecke, nach der die deutschen Unternehmen in einer wieder anziehenden globalen Konjunktur Kostennachteile im Wettbewerb vielfach mit technisch überlegenen Produkten ausgleichen und Einschnitte auch wieder zurücknehmen konnten. Indes ist die Lage inzwischen eine andere: Geopolitische Spannungen entfachen Handelskriege und drängen die Globalisierung der Wirtschaft zurück. Zölle und andere Handelsschranken, die eine neue Regierung Trump ausbauen will, machen dem Exportweltmeister Deutschland zu schaffen. Hinzu kommt ein deutlich gewandeltes Wettbewerbsumfeld. Insbesondere die Autoindustrie und Teile des Maschinenbaus haben den über Jahrzehnte schützenden Technologievorsprung vielfach eingebüßt. In der E-Mobilität vereinen chinesische Anbieter Kosten- und Technologieführerschaft. Auch in der IT- und Digitaltechnik, bei Halbleitern und Batteriezellen ist die Aufholjagd in Asien beachtlich.
Die Industrie insgesamt hat keine Zeit zu verlieren, um auf diese tiefgreifenden Herausforderungen zu reagieren. Besonders die Stakeholder in den Unternehmen müssen neue Konzepte entwickeln, die mehr Agilität und Kreativität im Umgang mit Markt und Wettbewerb beweisen. 2025 ist ein Jahr der Entscheidung, nicht nur in der Politik.