LEITARTIKEL

Ein Ruck fürs Autoland

Ein selbst verursachter Abgasskandal, ein Kartellverdacht gegen Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen, ein drohendes Fahrverbot für alte Diesel-Fahrzeuge in Städten: Die deutsche Autoindustrie steckt in ihrer mutmaßlich schwersten...

Ein Ruck fürs Autoland

Ein selbst verursachter Abgasskandal, ein Kartellverdacht gegen Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen, ein drohendes Fahrverbot für alte Diesel-Fahrzeuge in Städten: Die deutsche Autoindustrie steckt in ihrer mutmaßlich schwersten Vertrauenskrise. Die Folgen der vor fast zwei Jahren aufgeflogenen und mittlerweile in den USA mit Vergleichsforderungen in zweistelliger Milliardenhöhe geahndeten “Dieselgate”-Affäre von Volkswagen haben auch andere Konzerne erfasst. Die Politik ist alarmiert – wie die Teilnehmerliste des “Diesel-Gipfels” zeigt, zu dem heute neben acht Autoherstellern fünf Ministerien, ein Vertreter des Kanzleramts, neun Bundesländer, der Deutsche Städtetag, drei Industrieverbände sowie die IG Metall zusammenkommen.Der Glaubwürdigkeitsverlust betrifft eine Schlüsselbranche, an der direkt und indirekt Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen. Nicht nur erwiesenes Fehlverhalten, sondern auch die erhitzte Debatte über mögliche technische Tricksereien und Regelbrüche der Hersteller zulasten von Umwelt und Gesundheit sorgen für Verunsicherung. Die Aktienkurse der drei großen Autokonzerne BMW, Daimler und VW haben seit den ersten Berichten über Kartellvorwürfe vor knapp zwei Wochen sowie dem noch nicht rechtskräftigen, aber möglicherweise wegweisenden Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts über adäquate Mittel zur Nachrüstung von Dieselfahrzeugen ungeachtet solider operativer Halbjahreszahlen bis zu 9 % verloren.Ein langwieriges Kartellprüfverfahren und empfindliche Strafen stehen im Raum. Erhebliche Belastungen könnten aber auch anfallen, sollten die von 2021 an geltenden EU-Grenzwerte für das Klimagas Kohlendioxid verfehlt werden. Bislang spielt der im Vergleich zum Benziner effizientere und klimafreundlichere Diesel eine wesentliche Rolle für das Erreichen der CO2-Zielwerte. Doch sollte der Verlust des Vertrauens der Autokäufer in den stickoxidemittierenden Selbstzünder anhalten, könnte es knapp werden. Auf den Klimavorteil des Diesels wird die deutsche Umweltpolitik insofern aktuell kaum verzichten wollen.Weil sich der Wandel der Branche zu den alternativen Antrieben in die Länge zieht, dürfte der Diesel vor allem für große Fahrzeuge und für hohe Laufleistungen eine Alternative bleiben. Vorerst zumindest. Denn der saubere Diesel mit Harnstoffanlagen wird teurer werden. Und die Vorteile bei der Mineralölsteuer dürften abnehmen. Ihren Höhepunkt haben Selbstzünder wie Verbrenner hinter sich: Diese Erkenntnis sollte bei der Suche nach einer Balance im Umgang mit den Fehlern der Autokonzerne einerseits und der Relevanz der Branche für Deutschland andererseits im Vordergrund stehen.Fraglos müssen sich die Autohersteller, die bei der Dieselabgasreinigung manipulierten und Autokäufer sowie Öffentlichkeit täuschten, zu ihrer Verantwortung bekennen und auf eigene Kosten für Kompensation bei Schäden und für Nachrüstung sorgen. Illegales Verhalten wäre zu ahnden. Die Wiedergutmachung durch die Industrie sollte ein Maß erreichen, das keine Zweifel an der Absicht entstehen lässt, Glaubwürdigkeit wiederzuerlangen.Durchgreifend anders werden müsste aber auch das Verhältnis zwischen Autobranche und Politik. Der umwelt- und gesundheitspolitische Laisser-faire-Ansatz im Umgang mit der Autoindustrie trug zu den Verfehlungen der Hersteller bei. Der Anschein der stillen Rücksichtnahme und Kumpanei hält sich noch immer. Notwendig wären richtige Rahmenbedingungen, etwa für den Luft- und Klimaschutz, sowie die Errichtung wirksamer Kontroll- und Sanktionsmechanismen für die Umsetzung von Zukunftstechnologien. Dem Wandel zu alternativen Antrieben, autonomem Fahren und neuen Mobilitätsdienstleistungen würden Prämien und steuerliche Anreize zum Kauf neuer Dieselfahrzeuge nicht entsprechen. Passend wäre die Verpflichtung der Politik, die Umstellung auf alternative Antriebe zu beschleunigen und verstärkt zu investieren: in Ladestationen etwa, in die Umstellung von Stadtbussen, Polizei- und Krankenwagen von Diesel- auf Elektroantrieb oder in die Förderung von Carsharing.Was Autoindustrie und Autofahrer jetzt benötigen, ist ein realistischer Fahrplan für den Wechsel von Benzin- und Dieselmotoren hin zu neuen Antriebstechnologien. Ein Fahrplan, der den Herstellern Sicherheit für Investitionen verschafft und Kunden Schutz vor einem rapiden Wertverlust ihrer noch neuen Fahrzeuge bietet. Vom “Diesel-Gipfel” müsste in Anbetracht der Vertrauenskrise ein Ruck für das Autoland ausgehen.——–Von Carsten SteevensWas Autoindustrie und Autofahrer jetzt benötigen, ist ein realistischer Fahrplan für den Wechsel von Benzin- und Dieselmotoren zu neuen Antriebstechnologien.——-