Ein Zukunftsrat für Deutschland
Ein Zukunftsrat für Deutschland
Von Claus Döring
Das Geschäftsmodell Deutschland steckt in der Krise. Strukturelle Reformen sind überfällig, doch die politischen Parteien blockieren sich gegenseitig. Ein nationaler Zukunftsrat Wirtschaft könnte ein Weg sein.
Deutschland als kranken Mann Europas zu bezeichnen, sei eine mediale Übertreibung, meinen etliche Ökonomen, Regierungspolitiker und auch der Bundesbank-Präsident. Um im Sprachbild der Beschwichtiger zu bleiben: Ein Hochleistungssportler, der weniger hart trainiert und über die Zeit Speck angesetzt hat, sei nicht gleich als krank anzusehen, nur weil seine Leistungsfähigkeit vom Spitzenfeld aktuell ins Mittelmaß oder ans Ende gerutscht sei. Das kann man so sehen. Dann stellt sich freilich die Frage, ob der ehemalige Spitzensportler überhaupt wieder seine frühere Leistungsfähigkeit zurückgewinnen will und ob das Umfeld dies ermöglicht.
Wachstum und Wohlstand einer Volkswirtschaft werden maßgeblich durch die Entwicklung der Arbeitsproduktivität bestimmt. Sie unterliegt konjunkturellen und strukturellen Einflüssen. Die gegenwärtige Wirtschaftsschwäche, so die Beschwichtiger, sei vor allem konjunktureller Natur und somit vorübergehend. Schon 2024 sei wieder mit einem Wachstum des BIP zu rechnen. Wie lange „vorübergehend“ dauern kann, haben wir bei der Inflation gesehen. Immerhin hat die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht eingeräumt, dass es „breiter angelegten Handlungsdruck“ gibt. Dabei geht es um die strukturellen Rahmenbedingungen, wie die Innovationskraft der Unternehmen, die Allokationseffizienz des Marktes, die demografische Entwicklung, die Digitalisierung und auch die Bürokratie und Regulatorik.
Die Arbeitsproduktivität sinkt
Fakt ist, dass die Arbeitsproduktivität, ausgedrückt als Wertschöpfung pro Beschäftigten, in Deutschland seit Jahren sinkt. In keinem OECD-Land wird kürzer gearbeitet als in Deutschland. Daran etwas zu ändern, zum Beispiel durch höhere Wochenarbeitszeit oder längere Lebensarbeitszeit, ist politisch ein Tabu-Thema. Nachlassende Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter ist nicht nur auf Unternehmerkongressen eine lauter werdende Klage. Die Debatte über die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich spiegelt den Zeitgeist.
Deutschland verdankt seinen Wohlstand seiner industriellen Stärke, insbesondere in den Branchen Automobil, Chemie/Pharmazie und Maschinenbau. Technologieoffenheit und wettbewerbsfähige Energiepreise waren Grundlagen des Erfolgs. Beides ist in Gefahr, weil der Staat bei der gesellschaftlich wünschenswerten und auch ökonomisch sinnvollen Dekarbonisierung der Anmaßung des Wissens unterliegt und diskretionär in den Markt eingreift. Wenn die Industrie deshalb Erneuerungs- und Erweiterungsinvestitionen zunehmend im Ausland tätig, bröckelt auch die inländische industrielle Basis. Deutschland wird vom einstigen Taktgeber der technologischen Entwicklung wichtiger Branchen zum Mitläufer. Das es hierzulande zwar 173 Professuren für die Genderforschung, aber nur acht Lehrstühle für die Kernforschung gibt, wie die Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, Gitta Connemann, jüngst erinnerte, spricht für sich.
Bessere Rahmenbedingungen sind dringend nötig
Immerhin scheinen manche Politiker erkannt zu haben, dass das „Geschäftsmodell Deutschland“ und der Wirtschaftsstandort in Gefahr sind. Der Hessische Zukunftsrat Wirtschaft, dem unter Leitung von Entega-Chefin Marie-Luise Wolff und dem ehemaligen Wirtschaftsweisen Volker Wieland Vertreter aus Wissenschaft, Unternehmen und Gewerkschaften angehören, hat Ende August einen ersten Zwischenbericht mit 200 praktischen Empfehlungen für die Politik vorgelegt. Diese „Handlungsempfehlungen“ für die im Oktober neu zu wählende Landesregierung sollen die Weichen für ein „modernes Hessen von morgen“ stellen. Wie wär’s mit einem Zukunftsrat Wirtschaft für Deutschland? Die Verbesserung der Rahmenbedingungen in Deutschland ist dringend nötig, wie dereinst vor 20 Jahren. Man muss das Ganze ja nicht gleich Agenda 2030 nennen, falls der Bundeskanzler und seine Partei ungute Erinnerungen an die Agenda 2010 haben.