Eine Frage der Schrift
Notiert in Moskau
Eine Frage der Schrift
Von Eduard Steiner
Ob man denn – so fragen Russen im Gespräch wiederholt – als Ausländer, der die russische Sprache beherrscht, auch ihre Schrift lesen könne. Tja, manchen gab es der Herr wahrscheinlich im Schlaf, müsste man in Anlehnung an einen alttestamentarischen Psalm sagen. Die anderen, so sie nicht Wunderkinder sind, mussten die Buchstaben schon auch erlernen. Aber Hand aufs Herz: So schwer ist es dann auch wieder nicht.
Die Schrift ist dieser Tage beim traditionellen und größten russischen Autohersteller, dem Lada-Produzenten Avtovaz, zum Thema geworden. Das Unternehmen sollte darüber nachdenken, bei der Bezeichnung seiner Marken die kyrillische Schrift zu verwenden und die lateinische nur für jene Autos, die in den Export gehen, sagte Industrie- und Handelsminister Denis Manturov in einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti. Der Interviewer selbst hatte den Minister, der in Personalunion übrigens Aufsichtsratschef von Avtovaz ist, danach gefragt, weil die Praxis mit den lateinischen Buchstaben immer wieder kritisierte wird. Zumal auch das neue Avtovaz-Modell Lada Vesta New Generation in lateinischer Schrift geschrieben ist.
Schon früher wurde im Putin-System keine Gelegenheit ausgelassen, seinen Patriotismus zu demonstrieren. Angesichts von Ukraine-Krieg, westlichen Sanktionen und dem Streben nach Importsubstitution ist daraus gleichsam ein Volkssport geworden. Kommt der Minister nicht selbst auf die Idee, sich als Patriot zu gerieren, hilft eben der Journalist nach. Und in vielen Fällen wird es so sein, dass die Frage vorher abgesprochen ist, weil sie als Steilvorlage dienen soll, die der Angesprochene dann verwertet.
Der Zwang, seine Loyalität nach oben zu zeigen, ist epidemisch geworden. Und um sich Gehör zu verschaffen, wurden die Töne seit Kriegsbeginn nur noch lauter und radikaler. Besonders tut sich hier der Ex-Interimspräsident und nunmehrige Vizechef des Nationalen Sicherheitsrates, Dmitrij Medwedjew, hervor. Eigentlich im liberaleren Lager des Establishments verortet, brüllt er inzwischen fast am lautesten gegen den Westen und die Ukraine. Er wolle sich eben im Spiel halten und sei daher päpstlicher als der Papst, sagen Beobachter in Russland.
Sergej Karaganow, Leiter eines Thinktanks zur Außen- und Sicherheitspolitik, macht momentan dadurch von sich reden, dass er dafür plädiert, die Schwelle für einen Atomwaffeneinsatz herabzusetzen. Man muss sagen: Ganz ernst genommen wird er von Kollegen nicht mehr. Auch überspielt er damit die Tendenz, dass die russische Elite, soweit Informationen durchsickern, doch zunehmend vom Krieg angewidert ist – und sei es nur deshalb, weil er für ihr Leben auch wegen der Sanktionen unkomfortabel geworden ist. Jedenfalls hat Kremlchef Wladimir Putin an Image und Achtung unter den Seinen verloren. Ein gewisser Teil der Loyalität von unten folgt inzwischen längst dem Gesetz der Trägheit und Gewohnheit.
Doch zurück zu Avtovaz, wo Minister Manturov nun eigenen Worten zufolge hofft, dass abgesehen von der Schrift auch darüber nachgedacht wird, ausländische Wörter und Modellbezeichnungen zu ändern. Das Unternehmen wurde 1966 in der südrussischen Stadt Togliatti (benannt nach dem italienischen Kommunisten Palmiro Togliatti) gegründet und kann auf eine reiche Geschichte verweisen, die die russische Geschichte im Kleinen spiegelt. Zur Zeit der Privatisierung in den 1990er Jahren etwa kam es unter den Lada-Händlern zu Dutzenden Auftragsmorden. Später, 2005, holte sich der Staat die Kontrolle zurück, ehe 2008 Renault die Mehrheit übernahm, um nach dem Beginn des Ukraine-Krieges wieder auszusteigen.
Die Lada-Modelle wurden übrigens von Anfang an mit russischen Namen bezeichnet und kyrillischer Schrift geschrieben. Erst im Jahr 2004 – unter Putin – beschloss man, auf die lateinische Schrift zu wechseln. Heute besteht die Modellreihe aus vier Marken: Granta, Vesta, Largus und Niva (Niva Travel und Niva Legend).