LEITARTIKEL

Eis in der Sonne

Der Firmensitz gilt als Nabel jeder Unternehmenswelt. Die Zentralen großer Konzerne glänzen mit silbrigen Doppeltürmen, dem Blick auf mehrere hundert Hektar Stadtpark oder der Anmutung einer ringförmigen Raumstation. Die Gebäude symbolisieren Macht...

Eis in der Sonne

Der Firmensitz gilt als Nabel jeder Unternehmenswelt. Die Zentralen großer Konzerne glänzen mit silbrigen Doppeltürmen, dem Blick auf mehrere hundert Hektar Stadtpark oder der Anmutung einer ringförmigen Raumstation. Die Gebäude symbolisieren Macht und locken mit Karrierechancen. Dieser Schein entspricht allerdings nicht mehr uneingeschränkt dem Sein. Die Hauptquartiere verlieren ihre zentrale Rolle. Hinter den Fassaden breitet sich eine inhaltliche und letztlich physische Leere aus, denn mit schwindenden Aufgaben sinkt die Zahl der Beschäftigten. Die Vorstände vieler Multis treiben diesen Prozess, der gegen ihr unmittelbares Arbeitsumfeld gerichtet ist, mit erstaunlicher Konsequenz voran.Nun muss man nicht jede Klage eines Chefs über bürokratische Monsterzentralen für bare Münze nehmen. Denn Vorwürfe gab es immer wieder: Sie reichen von “Bullshit Castle” (damaliger DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp) bis zur “Lehmschicht” im Management (Ex-Siemens-Vorstandsvorsitzender Peter Löscher). Derartiges Jammern entpuppte sich meist als selbstgerecht und hat daher wenig bewirkt. Sparrunden kamen und gingen, die Stellen und Zuständigkeiten blieben. Doch seit Anfang des Jahrzehnts wandelt sich das Bild. Das Personal schrumpft in einem bemerkenswerten Tempo. Im Jahr 2012 seien durchschnittlich 5,6 % der Angestellten in einer Zentrale beschäftigt gewesen, zwei Jahre später nur noch 3,4 %, stellten die Berater von Roland Berger schon 2015 fest. Seitdem hält der Trend an. Zentralen implodieren nicht mit einem Knalleffekt, sie vergehen vielmehr kontinuierlich wie Eis in der Sonne.Dies erstaunt auf den ersten Blick. Schließlich bieten Unternehmenszentralen – in sicherlich unterschiedlichem Ausmaß – veritable Leistungen: Sie orchestrieren die Personalentwicklung, treiben Innovationen voran, definieren die Strategie, suchen Synergien, koordinieren den globalen Auftritt, sichern die Finanzkraft, kommunizieren mit den Stakeholdern und bändigen Komplexität. Eine eindrucksvolle Agenda. Insofern liegt es nahe, das Schrumpfen mit dem Herauspressen zusätzlicher Rendite nach einer langen Phase des Wirtschaftsaufschwungs zu erklären oder schlicht als Mode einzuordnen. Dies greift jedoch zu kurz, weil übersehen wird, dass vier grundlegende Veränderungen das Abschmelzen befördern.Unternehmenszentralen, die aus Schreibstuben entstanden, mussten historisch gesehen vor allem Daten sammeln und aufbereiten. Die Informationstechnik hat diesen Prozess bereits automatisiert und dezentralisiert. In einem nächsten Schritt wird die künstliche Intelligenz teilweise auch die Auswertung übernehmen. So können Informationen an Ort und Stelle bleiben, der Wissensvorsprung der Zentrale gegenüber den operativen Einheiten verschwindet und das Machtgefälle wird geringer.Zweitens: Viele Märkte wandeln sich so rasant, dass es schlichtweg zu lange dauert, bis eine Zentrale ein verändertes Produkt ersinnt. Also findet Innovation zunehmend in den operativen Gesellschaften statt. Außerdem erfordert der globale Auftritt unterschiedliche Ansätze in den einzelnen Weltregionen. Die Kompetenz hierfür sitzt aber vor Ort. Zusätzlich zwingen Amazon & Co. – drittens – alle Branchen, sich radikal am Kunden zu orientieren, weil die Daten- und Internetspezialisten ansonsten den Kontakt zum Abnehmer kapern. Mit diesem Abwehrkampf sind die Unternehmenszentralen als kundenferne Einheiten naturgemäß überfordert. Viertens: Nach Jahrzehnten expandierender Absatzmärkte müssen immer mehr Unternehmen in einen Verdrängungswettbewerb einsteigen. Denn in vielen Industrieländern sinkt seit den fünfziger Jahren das Wachstum, wenn man es als Zehnjahresmittel erfasst. Für das Verdrängen der Wettbewerber sind aber niedrige Kosten wichtig. Damit steigt der Rechtfertigungsdruck der Zentralen gegenüber jenen Aktivitäten, die das Geld verdienen.Zentralen werden also schrumpfen. Sie verschwinden aber nicht. Strategie und Finanzen haben ihren Platz am Firmensitz. Anstöße zur Entwicklung der Organisation sind ebenfalls ihre Aufgabe. Alte Organisationsmuster wie strategische Holdings sind dennoch keine Lösung für die geforderte Kundennähe und Flexibilität. Eine Blaupause für zukunftsfähige Modelle ist noch nicht zu erkennen, wenngleich Outsourcing forciert wird. Siemens zerlegt das Stammhaus in kleinere und damit flexiblere operative Zentralen. Die Allianz siedelt gruppenweite Kompetenzzentren unmittelbar in den operativen Gesellschaften an und vermeidet so Gerangel um die Zuständigkeit. In vielen Konzernen haben sich Arbeitsweisen bereits geändert. Nun werden schrittweise die Strukturen folgen.——–Von Michael FlämigDie Hauptquartiere großer Konzerne verlieren ihre zentrale Rolle. Kunden- und Marktnähe sind gefragt. Vorstände suchen neue Organisationsformen.——-