LeitartikelKapitalmarktunion

Europas Lackmustest

Am Projekt der Kapitalmarktunion wird sich die Funktionsfähigkeit und der Integrationswillen der EU entscheiden. Wenn es ihr nicht gelingt, sich auf Maßnahmen zu einigen, liefert sie ein Armutszeugnis ab.

Europas Lackmustest

Kapitalmarktunion

Europas Lackmustest

Die „Europäische Kapitalmarktunion“ hatte es zwischenzeitlich schon unter die Top Ten der inhaltsleeren Floskeln gebracht, da haben Europas Finanzminister und Regierungschefs dem Vorhaben wieder neuen Schwung verliehen. Ja, sogar mehr als das: Minister und Premiers haben die Vollendung eines Finanzbinnenmarkts, der diesen Namen tatsächlich verdient, zur entscheidenden Losung erklärt, damit erstens die nachhaltige Transformation der Wirtschaft überhaupt finanziert werden und damit zweitens die EU ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre Souveränität zurückerobern kann. Heute jedoch, nur wenige Monate später, ist die Euphorie in Brüssel einer gewissen Ernüchterung gewichen. Denn der Weg „from rhetorics to specifics“, also von der Sonntagsrede hin zum Gesetzgebungsvorschlag, erweist sich als ungemein hindernisreich.

Deutschland und Frankreich verschwenden gerade ihre politischen Kräfte in einer Kontroverse über die einheitliche Aufsicht von Ratingagenturen, Investmentfirmen, Verwahrstellen, Clearinghäusern, Handelsplattformen oder anderen Marktinfrastrukturen. Paris pocht auf eine Stärkung der Kompetenzen der EU-Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA. Berlin befürchtet eine Verdopplung der Strukturen und den Aufwuchs einer Superbehörde – und zwar ausgerechnet am Finanzplatz Paris.

Im gesetzgeberischen Maschinenraum, also unter Kommissionsbeamten, Europaabgeordneten und Finanzattachées, wird auf zwei strukturelle Schwierigkeiten verwiesen, die dem Projekt der Kapitalmarktunion im Wege stehen. Zum einen ist da die Nachrangigkeit des Themas auf der politischen Agenda. „Mit Fortschritten bei der Kapitalmarktunion gewinnt man keine Wahlen“, beklagen diejenigen, die Mehrheiten für einzelne Gesetzgebungsschritte gewinnen müssen. Zum Zweiten steht der Finanzplatzwettbewerb im Wege. Der gegenseitige Argwohn ist ausgeprägt, etwa wenn die Deutschen mutmaßen, dass Frankreichs Regierung sich nur deshalb für ein paneuropäisches Altersvorsorgeprodukt starkmacht, damit die dortigen Großbanken einfacher Zugriff auf die Spargroschen hiesiger privater Haushalte bekommen.

Es gibt kein Zurück

Mancher gibt deshalb das Projekt der Schaffung eines Binnenmarkts für Kapital schon wieder verloren, zumal der Appetit auf einen substanziellen Integrationsschritt in der EU angesichts des Aufstiegs von Nationalisten in vielen EU-Staaten überschaubar scheint. Allein: Europas Regierungschefs haben sich viel zu weit aus dem Fenster gelehnt, um die Kapitalmarktunion nun wieder still zu beerdigen. Und: In der Sache ist ein tiefer und liquider Markt wichtiger denn je. Ohne die Mobilisierung privaten Kapitals können weder Grüne die Klimawende finanzieren noch Sozialdemokraten die Förderung von Innovation und Beschäftigung – sie könnten es sich also gar nicht leisten, sich gegen einen effizienteren Kapitalmarkt zu stellen. Und Liberale und Christdemokraten haben erst recht keine Einwände und Vorbehalte.

Das Projekt der Kapitalmarktunion ist – gewollt oder nicht – zum Lackmustest geworden für die Funktionsfähigkeit und den Integrationswillen der EU. Vertreter aller wichtigen politischen Lager haben sich dazu bekannt, Repräsentanten aus allen EU-Staaten haben sich dafür ausgesprochen. Wenn es der EU nun nicht gelingt, sich auf Maßnahmen zu verständigen, liefert sie ein Armutszeugnis ab. Kurzum: Es geht um viel.

EU-Insider erwarten, dass es eine der ersten Amtshandlungen des neuen Finanzkommissars respektive der neuen Finanzkommissarin sein wird, eine Gesetzesvorlage für die Wiederbelebung des Verbriefungsmarkts vorzulegen, mit Erleichterungen bei den Kapitalvorgaben und deutlich weniger Due-Diligence-Auflagen. Parallel dazu werden ein oder zwei gezielte Vorstöße zur Harmonisierung einzelner Regeln des Insolvenzrechts erwartet, die zumindest Hoffnung auf mehr machen. Und mit Blick auf die einheitliche Aufsicht wird es im ersten Schritt darum gehen, Schlupfwinkel für regulatorische Arbitrage zu schließen. Finanzminister und Generaldirektoren sind gut beraten, diese drei Schritte ambitioniert voranzutreiben. Ansonsten würde das große Wort von der Kapitalmarktunion ein zweites Mal diskreditiert – und wäre endgültig entwertet.

Wenn der EU keine Fortschritte bei der Kapitalmarktunion gelingen, liefert sie ein Armutszeugnis ab.

Von Detlef Fechtner