Europas riskanter Plan mit Russlands Vermögen
Europas riskanter Plan mit Russlands Vermögen
Die EU sucht nach Wegen, eingefrorene Vermögen aus Russland für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen. Es wird immer klarer, wie schwierig dieses Unterfangen ist.
Von Stefan Reccius, Stockholm/Brüssel
Wenn Anders Ahnlid morgens in sein Stockholmer Büro kommt, erinnert ihn ein Globus aus Holz an die Dimension seiner Aufgabe. Der Globus, höher als sein Schreibtisch, wuchtiger als ein Gymnastikball und mutmaßlich älter als der 62 Jahre alte Diplomat, ist Geschichte zum Anfassen. Weit weniger greifbar ist der Gegenstand von Ahnlids gegenwärtiger Mission: Der Chef der schwedischen Handelskammer leitet die EU-Arbeitsgruppe zu eingefrorenen Vermögen aus Russland.
„Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich frühzeitig mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, eingefrorene Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen”, sagt Ahnlid. Erst jetzt, ein Jahr nach Russlands Angriff auf die Ukraine, wird das Vorhaben unter schwedischer Ratspräsidentschaft konkret. Von Woche zu Woche wird deutlicher, welch hohe Hürden zu überwinden sind. Zugleich wachsen die Zweifel, ob das überhaupt eine gute Idee ist.
Für die Alliierten der Ukraine ist klar: Russland muss für seine brutalen Angriffe und das Leid zur Rechenschaft gezogen werden – strafrechtlich und finanziell. Der Aggressor muss bezahlen, das hat EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis klargestellt. Freiwillig wird das Putin-Regime aber kaum Wiedergutmachung leisten. Begehrlichkeiten wecken deshalb festgesetzte Vermögen, auf die ihre russischen Eigentümer aufgrund der westlichen Sanktionen keinen Zugriff haben.
Suche nach Daten
Die EU hat nach eigenen Angaben annähernd 1.500 Einzelpersonen und mehr als 200 Organisationen aus Russland mit Sanktionen belegt. Laut Rat der Mitgliedstaaten sind bis dato 21,5 Mrd. Euro an privaten Vermögenswerten eingefroren. Ein Vielfaches dieser Summe – schätzungsweise rund 300 Mrd. Dollar – haben die G7-Staaten an Reserven der russischen Zentralbanken festgesetzt. Genau weiß das bislang niemand.
Wir haben den Auftrag, das Unterfangen so weit wie möglich voranzutreiben.
Anders Ahnlid, Chef der schwedischen Handelskammer
Hier beginnt die Mission von Anders Ahnlid. Sie ist dreigeteilt. Phase eins: Spurensuche. „Wir ermitteln die Fakten und sammeln Daten.“ Mit dem zehnten Sanktionspaket im Februar haben die EU-Staaten Meldepflichten auferlegt bekommen. Bis 12. Mai hatten sie Zeit, staatliche Vermögen Russlands auf ihrem Hoheitsgebiet ausfindig zu machen. Wie, das ist jedem Land selbst überlassen.
Für die Auswertung der Daten ist die EU-Kommission verantwortlich. Dort heißt es, man sei dabei, sich einen Überblick zu verschaffen, Daten und Informationen auszuwerten. Sie kommen von nationalen Behörden, von Banken und Finanzinstituten. Noch sei es nicht möglich, eine Gesamtsumme zu nennen. Die in Kreisen der G7-Staaten kursierende Summe von rund 300 Mrd. Dollar an festgesetzten Zentralbankvermögen hält man in Brüssel jedenfalls für realistisch.
Rechtliche Schwierigkeiten
Wie viel liegt wo? Nur wenn es eine Antwort auf diese Frage gibt, kann es mit Phase zwei von Ahnlids Mission weitergehen: Lösungsvorschläge. Ahnlids Arbeitsgruppe soll mögliche Optionen vorbereiten, wie die Vermögen für den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden können. „Dabei sprechen wir sowohl über eingefrorene Vermögenswerte von Privaten als auch von festgesetzten staatlichen Vermögenswerten der russischen Zentralbank“, sagt Ahnlid.
Verschiedenste Optionen würden diskutiert. Bedingung: Sie müssen im Einklang mit Europarecht und Völkerrecht stehen. Das ist alles andere als trivial. Zentralbankreserven sind nach allgemeinem Verständnis von der Staatenimmunität geschützt. Das heißt: Würde die EU sie unbedacht für den Wiederaufbau der Ukraine einsetzen, wäre das nach internationalem Recht nicht erlaubt.
Eine der wenigen Alternativen, die überhaupt Aussicht auf Erfolg haben und unter den EU-Staaten diskutiert werden, ist eine Art aktives Vermögensmanagement. Sind die Zentralbankreserven erst einmal aufgespürt, könnte man sie mithilfe eines Fonds verwalten und an den Finanzmärkten anlegen. Die Kapitalerträge, so die Idee, könnten dann an die Ukraine fließen.
Der Haken: Eines Tages werden die Sanktionen fallen. In dem Moment muss die russische Zentralbank ihre Reserven zurückerhalten – einschließlich der vertraglich festgelegten Zinsen, abzüglich Verwaltungskosten, ergänzt Maria Demertzis von der Denkfabrik Bruegel. Sie hält die Idee deshalb für nicht lohnenswert, womöglich sogar riskant. Schließlich müsste die EU für mögliche Verluste eines solchen Fonds vorsorgen und eine Klage Russlands vor einem internationalen Gericht einkalkulieren.
Oligarchen klagen
Wenn es um sanktionierte Privatvermögen aus Russland geht, sind Gerichte längt involviert. Oligarchen und Angehörige klagen reihenweise dagegen, dass sie auf Sanktionslisten auftauchen. So hat sich die Mutter von Jewgeni Prigoschin, Anführer der berüchtigten Wagner-Miliz, vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erfolgreich gegen die Aufnahme gewehrt. Auch Sanktionen gegen den Formel-1-Fahrer Nikita Mazepin haben Luxemburger Richter teilweise aufgehoben.
Sollten sich solche Urteile häufen, stellt sich unweigerlich die Frage: Wie soll es möglich sein, sanktionierte Vermögen für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen, wenn Gerichte die Sanktionen jederzeit verwerfen könnten? In diesen Tagen verhandeln die Richter in Luxemburg über weitere Klagen: Der Milliardär Gennadi Timtschenko und seine Frau gehen gerichtlich gegen die Sanktionen vor. Ebenso Alexander Schulgin, Chef der Handelsplattform Ozon. Auch Alexej Mordaschow, bis zum Krieg Großaktionär des deutschen Reisekonzerns Tui, hat geklagt.
Die USA schaffen derweil Fakten: US-Justizminister Merrick Garland hat kürzlich zum ersten Mal einen Transfer eingefrorener Vermögen eines russischen Oligarchen in die Ukraine freigegeben. In Brüssel und Stockholm wird man das aufmerksam verfolgen. Bisher haben es EU, USA und Großbritannien im Rahmen der G7 geschafft, bei den Sanktionen weitgehend geschlossen vorzugehen.
„Im Einklang mit Partnern“
Anders Ahnlid soll helfen, dass es beim Umgang mit eingefrorenen Vermögen so weitergeht. Denn das ist der dritte Teil seiner Mission: internationale Koordination. „Wir müssen sicherstellen, dass wir im Einklang mit unseren Partnern in der G7 vorgehen.“ Allerdings stößt schon die Zusammenarbeit innerhalb der EU an Grenzen, wie Ahnlid durchblicken lässt.
Allzu sehr ins Detail gehen kann er nicht, nur so viel: Es liege an den Mitgliedstaaten zu liefern. „Den großen EU-Staaten kommt hier eine besondere Verantwortung zu.“ Diese Botschaft ist ihm so wichtig, dass er sie am Ende des Gesprächs wiederholt. Ahnlid, ganz Diplomat, bleibt bewusst im Ungefähren. Aber auch so wird deutlich, dass offenbar nicht alle mit der gleichen Entschlossenheit mitziehen.
„Wir haben den Auftrag, das Unterfangen so weit wie möglich voranzutreiben”, sagt Ahnlid. „Es ist allerdings sehr komplex. Daher ist es zu früh zu sagen, wie weit wir damit kommen.“