Handel

Exporteure im Brexit-Blues

Noch drücken britische Zöllner beide Augen zu. Dennoch zeigt sich: Der Last-Minute-Vertrag über die Austrittsmodalitäten ist nicht die Basis eines Neuanfangs, sondern wirft neue Probleme auf.

Exporteure im Brexit-Blues

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit kann Alexander Lau durchatmen. Die erste Welle, sagt er, sei etwas abgeflacht – und gemeint ist ausnahmsweise nicht Corona, sondern der Brexit. Lau kümmert sich um Anliegen der Unternehmen in München und Oberbayern, er ist gewissermaßen der inoffizielle Brexit-Beauftragte der dortigen Industrie- und Handelskammer (IHK). Irritierten Exporteuren schickt er lange Schreiben mit Zoll- und Visumsformalitäten, hält Seminare ab und führt eine Liste mit den drängendsten Problemen, um sie dem britischen Generalkonsulat zu übergeben. „Corona und Brexit zusammen“, sagt Lau, „das ist schon sehr toxisch“.

Auch Polen zieht vorbei

Anderthalb Monate sind vergangen, seit Großbritannien nicht mehr Teil der Europäischen Union, von Binnenmarkt und Zollunion ist. Immer deutlicher wird, dass der Last-Minute-Vertrag über die Austrittsmodalitäten nicht die Basis eines Neuanfangs ist, sondern ein lückenhaftes Konvolut, das mehr Probleme aufwirft als löst. Eindrücklich belegt das die jährliche Umfrage der Industrie- und Handelskammern im ganzen Land. 60% der 1300 seit dem Ende der Brexit-Übergangsphase befragten Unternehmen, die Geschäfte in Großbritannien machen, bezeichnen ihre Geschäftslage als schlecht – viel mehr als in jeder Umfrage seit dem Brexit-Referendum 2016. Besserung ist kaum in Sicht (siehe Grafik).

Falls im Handel mit dem Vereinigten Königreich im Jahr eins nach der Pandemie eine schwarze Null stehen sollte, wäre das schon ein Erfolg. Und das, obwohl die Ausfuhren auf die Insel 2020 um weitere 15,5% eingebrochen sind – so viel wie bei keinem anderen großen Handelspartner. Hätten die Firmen gegen Jahresende in Erwartung weiterer Verwerfungen nicht noch ihre Lager aufgefüllt, das Minus wäre noch heftiger ausgefallen. „Der Handel hat im Januar noch mal nachgelassen“, sagt Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer. Großbritannien ist bereits von Platz 3 auf 5 der wichtigsten Absatzmärkte zurückgefallen, in diesem Jahr dürfte auch Polen vorbeiziehen. Bei Im- und Exporten zusammengenommen wird das Vereinigte Königreich wohl hinter Österreich auf Platz 9 zurückfallen.

Ein Ende ist nicht in Sicht: Fast die Hälfte der Unternehmen rechnet mit unverändert rückläufigen Exporten. 15% geben an, Investitionen auf andere Märkte zu verlagern. Bei mehr als 400000 Unternehmen, die auf dem britischen Markt in Werkshallen und Büros investiert haben, ist das eine ganze Menge. Das liegt nicht zuletzt an der Brexit-Bürokratie und den Zusatzkosten. Sie belaufen sich nach Angaben aus Industriekreisen auf 400 Mill. Euro pro Jahr, weil schätzungsweise zehn Millionen Zollanmeldungen notwendig sind, allein um das Geschäft aufrechtzuerhalten.

Noch genießen europäische Unternehmen eine Schonfrist. Denn London verfährt in den ersten Monaten nach dem Prinzip „light touch“: Während Zöllner auf der französischen Seite des Eurotunnels seit Tag 1 angehalten sind, Ernst zu machen mit den Zollvorschriften, drücken die Briten noch beide Augen zu. Hoppe ist gespannt, was geschieht, „sobald die britische Regierung stufenweise verstärkt kontrollieren lässt“. Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament, das den Brexit-Deal noch bestätigen muss, sieht Probleme für die Exporteure: „Auf unserer Seite läuft es noch relativ rund, aber die Lage kann sich verschärfen, wenn die Übergangszeit erst mal abgelaufen ist.“

Ursprungsregelungen, Zollanmeldung, Abfertigung: „Vieles ist noch unklar“, konstatiert Hoppe. „Gerade für kleine Unternehmen ist das ein großes Thema“. Unternehmen müssen seit der Abkehr der Briten vom europäischen Binnenmarkt samt Zollunion für allerlei Exportgüter exakt kalkulieren und protokollieren, wie hoch der Anteil der Wertschöpfung im jeweiligen Wirtschaftsraum ist. Ist ein Produkt nicht „britisch“ respektive „europäisch“ ge­nug, greifen seit 1. Januar Einfuhrzölle. Der bürokratische Aufwand ist gerade für Autobauer und ihre Zulieferer enorm, schließlich passieren Tausende Bauteile Ländergrenzen zigfach, bevor ein Neuwagen vom Werksgelände rollt. Im Dickicht der Ursprungsregeln dürfte das letzte Wort längst noch nicht gesprochen sein: Offenbar ist die britische Seite bestrebt, auch dieses Fass aufs Neue zu öffnen.

Das macht vor allem Firmen und Beschäftigten in Alexander Laus Einzugsgebiet Hoffnung. In Bayern ar­beiten rechnerisch circa 50000 Menschen für den Export nach Großbritannien, wie das Institut für Weltwirtschaft (IfW) überschlagen hat. Deutschlandweit sind es circa 190000. Kein Wunder: Autoindustrie und Maschinenbau, im Süden besonders stark, sind Treiber des Handels. Maschinenbauern rauben über die Zollformalitäten hinaus schwammige Visumsregeln Nerven. Denn nach britischem Recht ist der Hersteller, der eine Maschine liefert, selbst für Installation, Wartung und Reparatur zuständig.

Noch dämpft die Pandemie wegen strenger Auflagen bei der Ein- und Ausreise die Reisetätigkeit der deutschen Exportwirtschaft. Das verschleiert bislang das ganze Ausmaß der neuen Hürden im Geschäft mit der Insel. „Aber wenn Corona erst mal vorüber ist“, raunt Lau, „was kommt dann noch alles auf uns zu?“