Finanzinvestoren laufen der Börse den Rang ab als Finanziers für Firmen
Finanzinvestoren und Börsen tauschen die Rolle
Private Equity wird zunehmend zum Kapitalgeber der Realwirtschaft
Von Christoph Ruhkamp, Frankfurt
Es herrscht Ebbe. In Europa gibt es seit Beginn des Kriegs und der Zinserhöhungen nur eine sehr geringe Anzahl an Börsengängen wie jüngst der italienische Wettanbieter Lottomatica oder schon etwas früher im Jahr die deutsche Webhosting-Firma Ionos. Bei beiden hat sich der Kurs schlecht entwickelt. Etwas besser sieht es bei Kapitalerhöhungen aus: „Der europäische Sekundärmarkt ist sehr aktiv und offen für Kapitalerhöhungen“, sagt Christoph Stanger, Leiter der Abteilung für europäische Aktienemissionen bei Goldman Sachs. „In Deutschland hat sich das Volumen der Equity-Capital-Markets-Transaktionen im laufenden Jahr im Vorjahresvergleich sogar mehr als verfünffacht auf 8,6 Mrd. Euro.“ Es gehe dabei weniger um spezielle Branchen als um bestimmte Merkmale, die Investoren suchen.
Sie wollen Aktien von profitablen Unternehmen, die zugleich eine Wachstumsgeschichte zu bieten haben. „Ein Beispiel war die Kapitalerhöhung beim Pharma-Glasverpackungshersteller Gerresheimer, die gut 270 Mill. Euro einspielte“, sagt Stanger. Hintergrund ist der erwartete Boom an Medikamenten gegen Fettleibigkeit – Appetitzügler, die gespritzt werden –, auf den sich Gerresheimer vorbereitet. „Der Platzierungsabschlag lag bei nur 4,7%, und auch die bereits bestehenden Aktionäre haben die Maßnahme stark unterstützt. Die Platzierung erfolgte bei 86,50 Euro. Jetzt wird die Aktie bei 98 Euro gehandelt. Wir sehen im Sekundärmarkt auch große, milliardenschwere Transaktionen, die erfolgreich umgesetzt werden.“
Insgesamt ist das ECM-Volumen in EMEA trotz des starken Anstiegs zum Vorjahr aber immer noch um rund 40% geringer als vor der Pandemie. Gerresheimer ist eher eine Ausnahme. Die Eigenkapitalfinanzierungen, die in der Vergangenheit typisch für Börsen waren, finden dort immer seltener statt. Sie sind zum größeren Teil nun abseits der Börsen zu finden – in den sogenannten Private Markets, jenem undurchsichtigeren Teil des Kapitalmarktes, der neben Private Equity (Unternehmensbeteiligungen) auch Venture Capital (Wagniskapital) und Growth Equity (Wachstumskapital) umfasst.
Auf den Rollentausch zwischen öffentlichen und privaten Märkten als Finanziers der Realwirtschaft weist der Schweizer Finanzinvestor Partners Group hin, der 135 Mrd. Dollar an Vermögen verwaltet und dem in Deutschland unter anderem der Heizungsablesekonzern Techem gehört. Die privaten Märkte – an denen Vermögenswerte wie zum Beispiel Unternehmensbeteiligungen abseits der Börsen gehandelt werden – überholen die öffentlichen Märkte, konstatiert Steffen Meister. Der Executive Chairman der Partners Group erwartet, dass sich die Private-Markets-Firmen – also Finanzinvestoren, die das Vermögen ihrer Investoren in Assets abseits der Börse investieren – bald nach aktiven und passiven Anlagestrategien ausdifferenzieren.
Der Börsengang, einst das Zeichen für ein reifes Unternehmen, das auf den Markt kommt, sei heute immer häufiger jungen und unrentablen Firmen vorbehalten, die sich möglicherweise nicht als erfolgreich erweisen. So sank laut einer Studie der University of Florida der Anteil der börsennotierten Unternehmen in den USA, die zum Zeitpunkt des Börsengangs Gewinne erzielten, von 85% im Jahr 1990 auf 21% im Jahr 2022. In der Zwischenzeit haben sich Private-Equity-Firmen, die einst als Ort für Opportunismus und Financial Engineering bekannt waren, zunehmend der Finanzierung gesunder Unternehmen und der Wertschöpfung durch organisches Wachstum und operative Spitzenleistungen zugewandt.
Steffen Meister kommentiert: „Die privaten Märkte haben sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt, und die Branche löst die öffentlichen Märkte zunehmend als Sachwalter der Realwirtschaft ab.“
Die zunehmende Bedeutung der privaten Märkte bei der Finanzierung der Realwirtschaft – die jährliche weltweite Mittelbeschaffung übersteigt laut Datenanbieter Preqin inzwischen deutlich die Aktienemissionen an den öffentlichen Märkten – werde wahrscheinlich neue Marktteilnehmer anlocken und einen ebenso wichtigen Wandel bei den Unternehmen selbst bewirken, erwartet die Partners Group. Aktive und passive Investitionen sind vertraute Begriffe auf den öffentlichen Märkten, und eine ähnliche Unterscheidung werde in Zukunft für die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Finanzinvestoren entscheidend sein, wenn auch mit einer anderen Definition von aktiv und passiv. Wirklich aktive Private-Equity-Firmen, die große Ressourcen mit einem Ansatz für transformative Investitionen im industriellen Stil kombinieren, um Werte zu schaffen, würden am besten positioniert sein.
Tatsächlich haben sich die Rollen der öffentlichen und privaten Märkte bei der Kapitalbeschaffung für Unternehmen seit den achtziger Jahren beinahe komplett vertauscht. Wenn es um die Kapitalbeschaffung geht, sind die öffentlichen Märkte im Bereich der opportunistischen und riskanten IPOs von oft jungen Firmen stark, während private Märkte im Bereich der realwirtschaftlichen Investitionen und strategischen Wachstumsplanung glänzen.
Natürlich sind die öffentlichen Märkte nach wie vor auch die Heimat von großen und profitablen Konzernen wie Nestlé oder Unilever. „Diese Konzerne stehen jedoch für den vergangenen Erfolg, und wenn man sie sie als Spiegelbild der aktuellen Rolle der öffentlichen Märkte betrachtet, ist das wie ein Blick in den Rückspiegel, um den vor uns liegenden Weg zu beurteilen“, gibt Partners-Group-Manager Meister zu bedenken. „Die wichtigste Rolle der Finanzierungsmärkte liegt in der Beschaffung neuen Kapitals für Unternehmen, die ihren zukünftigen Erfolg aufbauen. Betrachtet man die öffentlichen Märkte aus dieser Perspektive, sehen wir eine ganz andere Geschichte.“
Die IPOs der letzten 20 Jahre waren laut Meister von „Hype-Assets“ wie zum Beispiel Spacs dominiert. Die öffentlichen Märkte seien bei IPOs fasziniert von Technologie, hochkarätigen Gründern und dem Potenzial für spekulatives und übermäßiges Wachstum. Die sich verändernde Rolle der Börsengänge zeigt sich auch in der Zahl der Unternehmen, die an die öffentlichen Märkte gekommen sind. Wie eine Betrachtung der Anzahl von Börsengängen zwischen 1980 und 2022 des Warrington College of Business der University of Florida zeigt, ist die absolute Zahl der IPOs mit den Marktzyklen gestiegen, aber es gibt seit der Jahrtausendwende einen klaren Abwärtstrend.
Im gleichen Zeitraum kam es zu einer Vielzahl von Fusionen zwischen börsennotierten Unternehmen und auch zu einer wachsenden Zahl von Public-to-Private Transaktionen. Eine Studie von Morgan Stanley aus dem Jahr 2020 ergab, dass sich die Zahl der börsennotierten Unternehmen in den USA seit 1996 halbiert hat. Inzwischen hat sich die Art der IPOs verändert. „In den 1980er und 1990er Jahren wurden die Börsengänge noch von profitablen, vermögensstarken Unternehmen durchgeführt“, sagt Meister. Seit der Jahrtausendwende jedoch sind Unternehmen mit geringen Vermögenswerten, geringen Gewinnen oder Verlusten dominierend. Und in den Jahren 2020/21 machten traditionelle Unternehmen – wie verbrauchernahe Unternehmen, das Gesundheitswesen oder Industrieanlagen – nur 26% der US-Börsengänge aus. Erstaunlicherweise waren 89% der eher traditionellen Börsengänge solche von Unternehmen, die zuvor im Besitz von Finanzinvestoren waren.
Angesichts der Zinserhöhungen wird den Private-Equity-Investoren, weil sie mit Schulden das Eigenkapital hebeln, ein Abstieg vorausgesagt. „Solche Vorhersagen wurden auch im Jahr 2000 nach dem starken Anstieg der Technologie- und medienübernahmen gemacht, als der Wert der privaten Märkte auf etwa 1 Bill. Dollar stieg. Ein solcher Einbruch fand aber nicht statt, und ein Jahrzehnt später hatten sich die Privatmärkte verdreifacht auf etwa 3 Bill. Dollar“, betont Meister. „Und noch einmal, nach der großen Finanzkrise, wurde vorausgesagt, dass die privaten Märkte ihren Höhepunkt erreicht hätten. Seitdem haben sich die privaten Märkte mehr als verdreifacht auf 10 Bill. Dollar.“