Frühverrentung

Fluch der späten Geburt

Der Versuch der Banken, das Demografieproblem durch Frühverrentung zu lösen, ist ein gesellschaftliches Experiment mit offenem Ausgang.

Fluch der späten Geburt

Erinnern Sie sich noch an die „Gnade der späten Geburt“? Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl prägte diesen Ausdruck in den frühen 1980er Jahren, um anlässlich eines Staatsbesuchs in Tel Aviv seine Legitimation zu Gesprächen auf Augenhöhe mit dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten und Holocaust-Überlebenden Menachem Begin zum Ausdruck zu bringen. Das Schlagwort ist fast in Vergessenheit geraten, ebenso wie die oft hitzig geführte Debatte über das Maß der historischen Verantwortung, die Nachkriegsdeutschland zu tragen habe. Für die sogenannten Babyboomer waren diese Jahre prägend. Nicht nur wegen der in dieser Debatte zum Ausdruck kommenden Abgrenzung von ihren Eltern, sondern auch weil die Angehörigen der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge in den 1980er Jahren ihre Ausbildung absolvierten, auf Reisen gingen, studierten und Familien und Firmen gründeten.

Wer in den 1970er Jahren oder später das Licht der Welt erblickte, ist mit den Spuren dieser Bugwelle an Geburten aufgewachsen. Das fängt bei überdimensionierten Bildungs-Zweckbauten aus Beton an, in denen sich Schüler und Studenten späterer Generationen zu verlieren drohten, und geht über die mangelnden Jobeinstiegs- und Karrierechancen in den Jahren um die Jahrtausendwende bis zur Gewissheit, dass sich das demografische Problem weder mit umlagefinanzierten noch mit kapitalgedeckten Ansätzen wirklich lösen lassen wird. Untermalt wird der Eindruck, dass diese Welt für andere kon­struiert wurde, bisweilen von der Lethargie, die manche der mit lukrativen Altverträgen ausgestatteten, in Konzernen quasi unkündbaren 50-plus-Kollegen verbreiten. Von den Folgen des menschengemachten Klimawandels und der Aussicht auf massenhafte Jobverluste infolge der Digitalisierung ganz zu schweigen.

Für viele Jüngere in der Finanzbranche dürfte der Trend, einen signifikanten Teil der Belegschaft in die Frühverrentung zu schicken, daher nicht wirklich überraschend kommen: Um ihre Restrukturierungsziele nach mehr als einem Jahr der Führungsquerelen rasch umzusetzen, schickt die Commerzbank Beschäftigte nicht etwa mit 60 oder 55 Jahren in den Vorruhestand, sondern schon mit 53 Jahren. Sofern sie die Voraussetzungen erfüllen, können sie sofort ausscheiden, erhalten weiterhin drei Viertel ihres letzten Gehalts und müssen bei der gesetzlichen Rente einen Abschlag von maximal 18% einkalkulieren.

Wer sich dafür noch ein bisschen zu jung fühlt oder in seinem Bereich noch eine Weile gebraucht wird, kann sich auch für die Teilnahme am Altersteilzeitprogramm entscheiden. Dank einer vom Arbeitgeber gezahlten Prämie und der mit acht Jahren im Vergleich zu früheren Programmen doppelt so langen Laufzeit reduzieren sich die Abschläge bei der gesetzlichen Rente deutlich. Wenn sie in vier Jahren aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden, werden die jüngsten Commerzbanker, die sich für das Altersteilzeitprogramm entscheiden, gerade einmal 57 Jahre alt sein – und die zaghaft begonnene Diskussion über die Anhebung des allgemeinen Renteneintrittsalters auf 70 Jahre wird an Fahrt gewonnen haben.

Mit dem Vorhaben, Mittfünfziger zu „Golden Agers“ zu machen, während die allgemeine Lebensarbeitszeit zwecks Finanzierbarkeit der Rentensysteme steigt, steht die Commerzbank dabei keineswegs allein. Um Streiks und Rechtsrisiken zu vermeiden und die Investoren mit Planungssicherheit zu überzeugen, setzen Banken und andere Finanzdienstleister in ganz Europa darauf, die disruptiven Folgen der Digitalisierung nach Möglichkeit ohne betriebsbedingte Kündigungen zu schultern. So schicken auch die spanischen Großbanken BBVA und Caixabank Tausende Beschäftigte zum Teil schon mit 52 Jahren in den freiwilligen Vorruhestand. Und auch in der Deutschen Bank, die sich bei der Umsetzung ihres groß angelegten Stellenabbaus am liebsten gar nicht in die Karten schauen lässt, hängt die Chance auf einen goldenen Handschlag dem Vernehmen nach weniger vom Lebensalter ab als vielmehr von dem jeweiligen Konzernbereich und der Tätigkeit des Angestellten. Nachhaltig ist dieser Versuch, den demografischen Bauch zu bewältigen, nicht. Eine neue Klasse von Arbeitnehmern zu schaffen, die 10 oder 15 Jahre weniger auf dem Lebensarbeitszeitkonto stehen haben, ist ein gesellschaftliches Experiment mit offenem Ausgang. Mittelfristig dürfte es auch an die Grenzen der Finanzierbarkeit stoßen. Ob in Form höherer Steuern oder steigender Sozialbeiträge: Treffen wird es erneut jene, die ohnehin dem Fluch der späten Geburt unterliegen.