LEITARTIKEL

Flucht ins Netz

Noch ist der Kabel- oder Satelliten-TV-Vertrag für die meisten Amerikaner sakrosankt. In kaum einem anderen Land wird derart viel ferngesehen. Zwischen viereinhalb und fünfeinhalb Stunden pro Tag haben diverse Marktforscher von eMarketer bis Nielsen...

Flucht ins Netz

Noch ist der Kabel- oder Satelliten-TV-Vertrag für die meisten Amerikaner sakrosankt. In kaum einem anderen Land wird derart viel ferngesehen. Zwischen viereinhalb und fünfeinhalb Stunden pro Tag haben diverse Marktforscher von eMarketer bis Nielsen dieses Jahr ermittelt. Bei den über 60-Jährigen sind es sogar mehr als sieben Stunden täglich. Der Anteil am gesamten Medienkonsum nimmt allerdings ab. Stand der Fernseher 2010 laut eMarketer noch für 41 % des US-Medienkonsums, sind es 2014 noch 36,5 %. Damit schrumpft die Bedeutung der Flimmerkiste zwar langsamer als bei Radio und Print, deren Anteile im gleichen Zeitraum von 14,9 % auf 10,9 % bzw. von 7,7 % auf 3,5 % gesunken sind. Die Grundtendenz ist aber gleich: Mobile Endgeräte lassen die Nutzer ins Internet abwandern. Der Anteil der Mediennutzung auf Tablets und Smartphones hat sich seit 2010 auf 23,3 % versechsfacht. Entsprechend war eine Reaktion der TV-Sender überfällig.Die traditionell enge Anbindung an die Kabel- und Satellitennetzbetreiber hat sich vor allem für Pay-TV-Sender im Wettbewerb mit Onlinevideodiensten wie Netflix als Nachteil erwiesen. Bezahlsenderfamilien wie die Time-Warner-Tochter HBO, Showtime oder Starz haben im jüngsten Vierteljahr in Summe 179 000 Kunden verloren und damit mehr als doppelt so viele wie in der Vorjahresperiode. Nur die Telekomkonzerne AT & T und Verizon haben mit ihren Internetverträgen noch neue Abonnenten anwerben können. Die großen Kabelnetz- und Satellitenbetreiber – Dish Network, Charter, DirecTV, Cablevision, Comcast und Time Warner Cable – meldeten derweil allesamt Pay-TV-Kundenverluste. Die Kunden wandern ins Netz – und wer einmal weg ist, kommt normalerweise nicht zurück. 6,5 % der Amerikaner haben keinen Fernsehvertrag mehr. Binnen vier Jahren ist der Anteil damit um gut die Hälfte gestiegen. Rund ein Fünftel der US-Netflix-Kunden hat keinen Fernsehvertrag mehr.Die US-Bezahlfernsehsender haben diese Entwicklung lange ignoriert. Internetfernsehen wurde den Abo-Kunden zwar angeboten – aber eben nur in Verbindung mit einem TV-Vertrag. Wer nur über das Netz konsumieren wollte, musste zu Alternativen wie Netflix, Hulu Plus oder Amazon Prime wechseln. Ab dem kommenden Jahr wird sich das ändern. Pay-TV-König HBO und sein größter Rivale Showtime werden künftig eigene Streamingdienste für Kunden anbieten, die keinen Fernsehvertrag besitzen. Dass die Angebote in einen Preiswettbewerb mit Netflix eintreten, die nur 9 Dollar monatlich kostet, ist eher unwahrscheinlich – zumindest, wenn sie ihr volles Programm offerieren. Allerdings ist auch ein begrenzter Zugang ohne die teuersten Premium-Inhalte vorstellbar. So hat Showtime-Mutter CBS einen Internetstreamingdienst für 5,99 Dollar monatlich gestartet, der allerdings die Spiele der Footballliga NFL nicht beinhaltet. Für Netflix wird das Angebot zwar in erster Linie als zusätzliche Konkurrenz gesehen. Mittelfristig könnte es allerdings sogar förderlich für das Netflix-Wachstum sein. Wenn mehr Programm online verfügbar ist, dürfte die Zahl der Umsteiger zum Onlinefernsehen zunehmen, und damit dürfte auch das Netflix-Angebot für Menschen interessant werden, die heute noch über ihr teures Kabelangebot hinaus nichts nutzen wollen.Der Trend, den Kabelanschluss aufzugeben, ist auch den Kabelunternehmen bewusst. Eine halbe Million US-Kunden dürften im Laufe des Jahres abwandern, schätzen sie. Auch deshalb hat es in den vergangenen Monaten so viele große Übernahmen in dem Sektor gegeben. Im Prinzip ist das klassische TV-Angebot längst anachronistisch. In einer Arbeitswelt, in der flexible Arbeitszeiten und Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit immer verbreiteter werden, ist der TV-Konsum nach festgelegtem Zeitplan für viele US-Amerikaner gar keine Option mehr. Selbst das Aufzeichnen einer Sendung erscheint da als unnötiger zusätzlicher Arbeitsschritt, wenn im Netz das komplette Inhalteangebot immer und überall verfügbar ist. Von 2015 an, wenn es erste echte Alternativangebote zum Fernsehabonnement geben wird, soll es für Kabelnetzfirmen ungemütlicher werden, wenn es nach den Pay-TV-Sendern geht. Das könnte auch günstigere Vertragskonditionen einbringen. Die Investoren glauben allerdings nicht daran. Während die Aktienkurse der großen Kabelnetzbetreiber seit Anfang 2014 trotz der Kundenabwanderungen gestiegen sind, haben die Titel von Showtime-Mutter CBS kräftig an Wert eingebüßt. Einmal mehr scheinen die Inhalteanbieter die Verlierer der (Kunden-)Flucht ins Netz zu sein.——–Von Sebastian SchmidDie US-Pay-TV-Sender profitieren noch immer vom vergleichsweise enormen TV-Konsum der Amerikaner. Doch der droht zunehmend ins Netz abzuwandern.——-