Folgenschwerer Rechtsruck am obersten US-Gericht
Es ist gar nicht so lange her, da zählte der Supreme Court (SCOTUS), der oberste Gerichtshof der USA, zu den angesehensten Institutionen im Lande. Die hohen Richter waren Superstars, die als politisch unabhängige Garanten für ausgewogene, durchdachte und faire Rechtsprechung galten. Während des letzten Vierteljahres ist das Verfassungsgericht aber in der Gunst der US-Bürger auf den tiefsten Stand in seiner Geschichte gefallen. Der vorrangige Grund dafür: Die Entscheidung, das staatlich garantierte Recht einer Frau, frei über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden zu dürfen, wieder aufzuheben und die Zuständigkeit dafür den einzelnen Bundesstaaten zu überlassen.
Umfragen illustrieren den freien Fall der hohen Richter. Dem Gallup-Institut zufolge sind nur zwei von fünf Amerikanern der Auffassung, dass der SCOTUS seinen Job gut macht. Zu einem fast identischen Schluss war eine Befragung der Marquette-Universität in Wisconsin gelangt. Das Gremium sei zu konservativ und fälle seiner Urteile aus politischer Motivation, anstatt gesunden Menschenverstand walten zu lassen, meinen die Kritiker. Vor zwei Jahren hatten noch knapp zwei Drittel der Bürger dem Verfassungsgericht gute Noten gegeben.
Der Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung ist nicht verwunderlich. Drei der neun Richter wurden nämlich vom ehemaligen Präsidenten Donald Trump ernannt und von dem seinerzeit republikanisch beherrschten Senat bestätigt. Um die Unterstützung durch seine politische Basis und den konservativen Flügel der Partei zu zementieren, hatte Trump einen Rechtsruck in dem Gremium angekündigt und dieses Versprechen auch eingelöst, als zwei der lebenslang ernannten Richter starben und ein dritter seinen Rücktritt ankündigte.
Sie haben bereits zahlreiche Urteile gefällt, die landesweit Furore machten. Ungeachtet der zahlreichen Massenmorde entschieden sie, in New York die Voraussetzungen für den Besitz eines Waffenscheins zu lockern. Mit einem anderen Urteil hoben sie die seit Jahrzehnten festgeschriebene Trennung von Kirche und Staat auf, indem sie den Weg frei machten, um in öffentlichen Gymnasien vor dem Unterricht Gebete aufzusagen. Für den größten Wirbel sorgte die Entscheidung, mit der Aufhebung des Urteils im Fall „Roe gegen Wade“, das fast 50 Jahre Bestand hatte, die Abtreibungsrechte einzuschränken.
Folglich haben die Richter nicht nur mit tief gesunkenem Ansehen zu kämpfen. Brett Kavanaugh, einer der Trumpisten, dessen Bestätigungsanhörung im Senat zuweilen in eine Parodie ausartete, muss mit Drohungen fertigwerden. Vor seinem Privathaus und Restaurants, die er mit seiner Familie besucht, kommt es häufig zu Demonstrationen. Ein bewaffneter Mann wurde sogar verhaftet und wegen versuchten Mordes angeklagt. Auch ist die Stimmung unter den Richtern offenbar von persönlichen Ressentiments zwischen den konservativen Rechtsgelehrten und dem liberalen Flügel des Gerichts geprägt.
In der neuen Sitzungsperiode des höchsten Gerichts, dem nun zum ersten Mal in der Geschichte vier Frauen und zwei Afroamerikaner angehören, könnte es zu weiteren Konfrontationen kommen. Schließlich stehen Entscheidungen zu mehreren umstrittenen Themen an. Der Supreme Court wird nämlich ein Urteil fällen, das bestimmen könnte, ob Gaststätten Vertretern der LGBTQ-Gemeinde den Zutritt verbieten dürfen. Auch schickt sich das Richtergremium an, die regulatorischen Kompetenzen der Umweltbehörde EPA einzuschränken. In einem anderen Fall könnte das Gericht die Aufsichtskompetenz einzelner Bundesstaaten über Präsidentschaftswahlen erweitern, was republikanischen Kandidaten einen bedeutenden Vorteil verschaffen würde und zur Manipulation von Ergebnissen führen könnte.
Einstweilen hoffen US-Präsident Joe Biden und seine demokratischen Kollegen, bei den bevorstehenden Kongresswahlen von dem Rechtsruck in dem Gericht profitieren zu können, insbesondere weil auch viele republikanische Frauen über das Abtreibungsurteil zutiefst empört sind. „Die Republikaner werden sich wundern, wem die Frauen im November ihre Stimmen schenken, warten Sie das nur ab!“, sagte Biden kürzlich selbstbewusst.