Gefährliches
„Wo ist das Geld?“, fragte Kreml-Chef Wladimir Putin 2002, zu Beginn seiner Regentschaft. Gerichtet war die mittlerweile dem russischen Schatz geflügelter Worte angehörende Sentenz an die damalige Führung des Gaskonzerns Gazprom, die er alsbald demontierte, um Personen aus seinem eigenen Stall dort zu positionieren. Es brauchte nicht viel Erklärung: Gemeint war, wo die Milliarden liegen, die auf dem Weg des Gasexports nach Europa mittels Zwischenhändlern, die Gazprom-Leuten zuzuordnen waren, abgezweigt worden sind.
Knapp zwei Jahrzehnte später steht dieselbe Frage, nun gerichtet an Putin selbst, so direkt im Raum wie nie zuvor und hat zumindest teilweise auch eine Antwort wie noch nie. Mit dem von Alexej Nawalny auf Youtube verbreitetem Film wurde bekannt, welch sagenhafte Palastanlage für Putin in der Nähe des Tourismusparadieses Sotschi am Schwarzen Meer errichtet worden war. Gut, offiziell gehört sie Putins einstigem Judo-Sparringpartner Arkadij Rotenberg, der seit der Jahrtausendwende am meisten Staatsaufträge für Bauprojekte und Pipelinebautätigkeiten – erraten, für Gazprom – erhalten hat. Jedenfalls hat Rotenberg das behauptet, nachdem der Kreml tagelang nicht recht wusste, wie er mit den Enthüllungen des Oppositionspolitikers Nawalny umgehen sollte. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Film gezeigten Belege und Geldflüsse klar auf eine Palastanlage für Putin schließen lassen, zumal das ganze Areal ja auch vom Geheimdienst geschützt wird. Apropos: Vor mehreren Jahren hat ein führender russischer Geheimdienstarbeiter seine Zunft einmal den „neuen Adel“ genannt. In der Tat fühlt sich das Land zurückversetzt in die Zarenzeit mit ihren Palästen für die Aristokratie.
Man kann das, was seit Nawalnys Rückkehr nach Russland nach dem überlebten Vergiftungsanschlag vor sich gegangen ist, an Bedeutung kaum überschätzen. Nicht, dass die politische Situation kippen würde, aber ein neues Zeitalter hat allemal begonnen. War der Kreml in der Vergiftungscausa trotz aller Pannen doch souverän geblieben, so hat Nawalnys Rückkehr aus Berlin – zumal mit dem Film – einiges durcheinandergebracht. Schon allein die Tatsache, dass im Nu über 100 Millionen Menschen das fast zweistündige Investigativvideo gesehen haben, hat bewirkt, was der Kreml immer tunlichst zu vermeiden versuchte: Der Großteil der Bevölkerung, der alle Jahre über nichts von Nawalny wusste, weil das Staatsfernsehen nichts brachte, ist nun im Bilde über ihn.
Das heißt wohlgemerkt nicht, dass die Breite der Bevölkerung von Nawalny angetan ist: mitnichten. Einer neuen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada-Center zufolge missbilligen nun sogar 56% der Befragten seine Tätigkeit, während dies im September noch 50% waren. Gleichzeitig ist der Prozentsatz derer, die seine Aktivität gutheißen, mit 19% sogar einen Prozentpunkt niedriger als damals. Aber sein Bekanntheitsgrad, der im Westen immer höher war als in Russland selbst, ist nun ebendort auch hochgeschnellt. Ein weiterer Effekt: Während Putin weiter auf die ältere Bevölkerungsschicht bauen kann, die ihre Informationen vielfach aus dem Staats-TV beziehen, hat er nun noch mehr jüngere Menschen als Unterstützer verloren als schon zuvor. Unter den 18- bis 24-Jährigen goutieren 36% Nawalnys Wirken, während 43% missbilligend zu ihm stehen.
Die Bruchlinie zwischen den Generationen hat sich verstärkt. Und noch etwas hat der Film über Putin bewirkt: Die Witze über ihn – nun verstärkt in Kombination mit Nawalny – leben auf. Bei aller Repression, die bei den Demonstrationen, ja und auch bei der Verurteilung Nawalnys zu dreieinhalb Jahren Haft in ihrer Brutalität zutage tritt, wird in der Bevölkerung zunehmend über die Staatsführung gelacht. Ob Putin, der den Draht nach unten ja längst verloren hat, davon erfährt, ist nicht ausgemacht. Und ob er die Bücher von Michail Bachtin kennt, auch nicht. Bezeichnenderweise war dieser Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker, der Wegweisendes über die subversive Kraft des Lachens in den Volkskulturen geschrieben hat, ein Russe. Stalin hatte den Mann, der 1895 geboren wurde, gleich einmal verbannt. Das hätte ihm auch heute passieren können.