Gefundenes Fressen für China-Watcher
Notiert in Schanghai
Gefundenes Fressen in China
Von Norbert Hellmann
Wie weit wären Sie bereit, sich zu bewegen, um einem angesagten Kebab-Shop oder einer besonders gut beleumundeten Currywurst eine Aufwartung zu machen? Zwei Kilometer zu Fuß oder eine längere S-Bahnfahrt sind wohl drin. Wenn aber eine ICE-Reise oder gar ein Flugticket erforderlich sind, um Junk-Food-Träume ins Zentrum einer Wochenendreise zu rücken, wird die Kandidatenliste dünner. Mit solchen Überlegungen hält man sich in China derzeit nicht auf.
Wer auf gebratene Spießchen als die mit Abstand beliebteste Variante eines kostengünstigen fleischhaltigen Snacks steht, richtet den Blick nach Zibo. Videoclips belegen eindrucksvoll, dass ein Massenpublikum auf der Suche nach dem ultimativen Spießchen-Erlebnis in das zuvor gänzlich unbekannte Städtchen Zibo in der ostchinesischen Provinz Shandong reist. Bei dem Wort Städtchen muss man kurz einhaken. Das ist nach chinesischem Standard gemeint. In Zibo-City und dem umliegenden Verwaltungsgebiet leben rund 4,5 Millionen Menschen. Das mag mehr als in Berlin oder Barcelona sein, reicht aber freilich nicht aus, um sich als echte chinesische Großstadt zu profilieren.
Zibo liegt in einem Gebiet zwischen der potthässlichen Provinzhauptstadt Jinan und dem reizvollen, für seinen heiligen Berg bekannten Taian. Es mangelt zwar an herkömmlichen touristischen Highlights, aber in diesem Frühjahr weiß man sich vor Besuchern aus allen Teilen des Landes kaum zu retten. Schuld daran sind nur die Spießchen. Durch eine glückliche Verkettung von Zufall und Influencer-Propaganda ist Zibo in aller Munde und gilt als Destination schlechthin, um sich ein paar fröhliche Tage mit fest programmierten Barbecue-Freuden zu machen.
Alle fahren sie hin, Studenten, Touristen, Familien und selbst verliebte Pärchen, nur um die einzigartige Atmosphäre einer Lokalität zu erleben, die sich in Nullkommanichts zur Hauptstadt der Spießchen-Kultur gemausert hat. Zu Abertausenden hocken sie im Freien und lassen Berge von gut gewürzten Fleischstückchen auffahren, die sie dann auf einem kleinen Grill am Tisch selber zurechtbrutzeln. Ganze Straßenzüge wurden zu einer gigantischen Outdoor-Restaurantmeile mit Grillaroma in der Luft umfunktioniert. Für die Menschen in Schanghai bedeutet dies in gewisser Weise den Duft der großen Freiheit. Dort war man in den letzten Jahren rigoros vorgegangen, um die traditionell aus Chinas Nordostprovinzen oder aber den muslimisch geprägten Westregionen stammende Spießchen-Kultur von Straßen und Bürgersteigen zu verbannen. Sie sind nur noch in förmlichen Restaurantbetrieben zugelassen, bei denen man dann oft lange Schlange stehen muss. Das untergräbt den Billigcharakter wie auch den Spontanitätsgrad eines informellen Grillabends in T-Shirt, Shorts und Schlappen.
In der ersten Maiwoche, als Chinas Tourismusszene wieder so richtig zu postpandemischem Leben erwachte, wurde Zibo zum Schlager für einen Kurztrip, bei dem es mal nicht um historische Sehenswürdigkeiten, Themenparks und Shoppingerlebnisse geht, sondern um Grillfleisch mit Frühlingszwiebeln, Kumin und scharfen Sößchen. Auf Video-Plattformen standen die Clips von ausgelassenen Abenden in Zibo ganz oben. Freilich pflegt die Social-Media-Karawane rasch weiterzuziehen. Jetzt darf man gespannt sein, welche Zugkraft das Thema Reisen mit Grillspaß in das beim in Kürze anstehenden Drachenbootfestival mit seinem verlängerten Wochenende herüberzuretten weiß.
Parteimedien haben den Zibo-Boom geflissentlich als untrüglichen Beleg für Chinas wiedererstarkende Konsumkultur mit breiter Massenpartizipation zelebriert. Allerdings haben sich seit Abschaffung der Corona-Restriktionen schon ein Dutzend von rauschhaft gefeierten Frühindikatoren für Chinas konsumgeleitetes Konjunktur-Revival wieder in Rauch aufgelöst. Nun muss sich zeigen, ob die Grillteller-Economy einen Beitrag leistet, um in Sachen Post-Covid-Erholung den Spieß richtig umzudrehen.