Notiert inTokio

Grapschen und kein Ende

Eine offizielle Umfrage bestätigt massenhafte sexuelle Belästigungen von Frauen in vollen Pendlerzügen in Japan.

Grapschen und kein Ende

Notiert in Tokio

Grapschen und kein Ende

Von Martin Fritz

Klischeebildern zufolge sind Japaner höflich und zurückhaltend. Doch die verbreiteten unsittlichen Berührungen von Mädchen und Frauen in der Öffentlichkeit zeichnen ein weniger schönes Bild. Bei einer neuen landesweiten Umfrage der Regierung unter 36.000 Personen im Alter zwischen 16 und 29 Jahren gaben fast 11% der Befragten an, betatscht worden zu sein oder andere unsittliche Handlungen erlebt zu haben. Fast 90% dieser Opfer waren Frauen. Bei einer Umfrage von 2019 unter 12.500 Menschen zwischen 15 und 49 berichteten sogar 70% der Frauen von sexuellen Belästigungen.

Zwei Drittel der Übergriffe geschehen laut diesen Umfragen in Zügen während der morgendlichen oder abendlichen Hauptverkehrszeiten. Denn die Pendler in den proppenvollen S- und U-Bahnen stehen so dicht gedrängt, dass die Frauen kaum feststellen können, wer von den Männern in ihrer Nähe sie intim angefasst hat. Im Gegenteil: Wegen der Enge können die Frauen sich den Tätern kaum entziehen.

Nur wenige Festnahmen

Diese „Chikan“, auf Deutsch Sittenstrolche oder Perverse, sind eine unendliche Plage. Nachgestellte Chikan-Übergriffe im Zug gehören zu den Pornofilm-Bestsellern. Die vollgestopften Züge schaffen nicht nur das perfekte Umfeld für anonyme Attacken. Auch sind japanische Frauen tendenziell eher schüchtern. Die Grapscher gehen daher davon aus, dass die meisten die Berührungen erdulden.

Selbst wenn eine Frau den Täter identifizieren kann, verzichtet sie oft auf eine Anzeige: Im Jahr 2023 nahm die japanische Polizei nur knapp 2.000 Chikan fest. Umgekehrt nutzen manche Banden die Lage aus: Eine Frau im Zug erhebt lautstark eine Anschuldigung gegen einen Mann neben ihr und zwingt ihn zum Aussteigen. Dort bedrängen ihre Komplizen den Mann, sich mit ein paar Geldscheinen „freizukaufen“.

Bisherige Gegenmaßnahmen fruchteten relativ wenig. Schon vor über 20 Jahren führten viele Bahnbetreiber während der Rushhour reine Frauenwaggons ein. Auf Bahnsteigen und in Zügen wächst die Zahl der Überwachungskameras. Die Verkehrspolizei verstärkte ihre Patrouillen in Zivil. Die Behörden schärfen mit Plakaten das Bewusstsein, dass es sich um eine Straftat handelt. Mit einer Smartphone-App können betatschte Frauen einen Alarmton auslösen, der den Täter abschrecken soll. Ein anderes Gegenmittel ist ein Stempel zum Markieren des Angreifers mit unsichtbarer Tinte.

Förderung von Strafanzeigen

Neuerdings setzt die Regierung den Hebel woanders an, um die Zahl der Anzeigen zu erhöhen: Wenn Schülerinnen sich wegen Chikan an die Polizei wenden und dadurch zu spät zum Unterricht kommen, dann sollen die Schulen sie nicht mehr als abwesend registrieren und ihnen zusätzliche Zeit für Prüfungen gewähren. Sonst würden die Opfer zusätzlich bestraft. Gerade während Examenszeiten feuern sich anonyme Chikan auf Twitter gegenseitig an, weil die Frauen auf dem Weg zu ihrer Prüfung keine Zeit hätten, um Anzeige zu erstatten.

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