Notiert in London

Bezahlt wird nicht

Ladendiebstahl ist in Großbritannien zur Epidemie geworden. Die Polizei ist überfordert. Auch Besserverdiener lassen Dinge mitgehen, wenn ihnen die Selbstbedienungskasse Probleme macht.

Bezahlt wird nicht

Notiert in London

Bezahlt wird nicht

Von Andreas Hippin

Manche Medien werden nicht müde, auf die Tränendrüse zu drücken, wenn es um das Thema Ladendiebstahl geht. Die BBC wartete mit der Geschichte eines Wachmanns auf, der für eine alleinstehende Mutter bezahlte, die in einem Wohnheim lebte und eine warme Mahlzeit für ihren Sohn stehlen wollte. Nach einigen Wochen habe sie einen Job gefunden, sich bei ihm bedankt und einen Zehner in eine Dankeskarte gesteckt.

Ladendiebstahl nimmt stark zu

Tatsächlich dürften stark gestiegene Preise eine wesentliche Rolle bei der Zunahme der Ladendiebstahlsdelikte gespielt haben. Aber lässt sich der Anstieg um ein Viertel in England und Wales binnen eines Jahres allein darauf zurückführen? Man mache es sich leicht, wenn man behaupte, dass es sich allein um ein Problem der Lebenshaltungskosten handelt, sagte Archie Norman, der Chairman von Marks & Spencer (M&S). Ein Teil der Diebstähle werde von organisierten Banden verübt. Und dann sei da auch noch die Mittelklasse.

Überforderte Ordnungshüter

Man muss sich nur umsehen. In der Filiale von Pret A Manger am Bahnhof schnappen sich Kunden einfach Sandwich und Getränk und laufen an der Kasse vorbei zum Ausgang. Andere packen sich im Supermarkt mal eben den Rucksack voll. Das Klima ist rauer geworden. Die Polizei hat nicht das Personal, um auf jeden Anruf eines Ladenbesitzers zu reagieren. Kleinere Eigentumsdelikte wie Ladendiebstahl oder Fahrraddiebstähle werden nicht sehr hoch gehängt. Die Polizei empfiehlt Mitarbeitern von Einzelhändlern angesichts der zunehmenden Gewalt, nur dann entsprechend den Erwartungen ihres Arbeitgebers zu intervenieren, wenn es für sie sicher sei.

Alle Altersgruppen vertreten

Benedict Selvaratnam, der das Lebensmittelgeschäft Freshfields Market in Croydon im Londoner Süden betreibt, beobachtet bis zu zehn Diebstähle am Tag. Als er angefangen habe, seien es drei bis fünf Fälle pro Woche gewesen. Seine Mitarbeiter würden regelmäßig beschimpft und angegriffen, sagte er der Website MyLondon. „Teenager kommen rein und nehmen sich völlig unverfroren Slushies, Soft Drinks und Einweg-E-Zigaretten“, sagte Selvaratnam. „Rentner stehlen Fischdosen oder Corned Beef. Mütter verstecken Dinge unter ihren Kinderwagen. Das ist neu und ist bisher nur in diesem Jahr passiert.“

Handgemenge in Peckham

Im September sorgte das rabiate Vorgehen des Besitzers von Peckham Hair & Cosmetics gegen eine schwarze Kundin für Empörung. Die Frau wollte Geld für Produkte zurück, die sie dort gekauft hatte. Der Ladenbesitzer lehnte die Erstattung ab. Angeblich wollte sich die Frau selbst entschädigen, indem sie Dinge aus den Regalen nahm. Es kam zum Handgemenge, von dem dramatische Videoaufnahmen im Internet zirkulierten. Die Situation eskalierte schnell. Der Laden schloss vorübergehend und wurde tagelang von aufgebrachten Anwohnern belagert. „Parasitäre Händler raus aus unserer Community“ war auf einem der vielen Zettel zu lesen, die auf die heruntergelassenen Rollläden geklebt wurden. Er würde sich in einer solchen Situation heute anders verhalten, sagte der Ladenbesitzer dem Sender ITV. Wäre so etwas seiner Frau oder seiner Tochter passiert, würde er genauso reagieren wie die Leute vor seinem Laden.

Organisierte Banden und Gutverdiener

Organisierte Banden stehlen hochwertige Artikel wie Kosmetika, Markenspirituosen oder Steaks, um sie an Pubs, kleine Läden oder auf Flohmärkten zu verkaufen. Überraschender ist, dass auch viele Angehörige der Mittelklasse Dinge mitgehen lassen. Dem M&S-Chairman zufolge ist der Anlass oft, dass die Scanner an den Selbstbedienungskassen nicht richtig funktionieren. Werden Produkte nicht eingelesen, sei die Bereitschaft da, den Fehler nicht zu korrigieren. Offenbar glaube man, als guter Kunde ein Recht dazu zu haben.

Selbstbedienungskassen im Fokus

Eine Antwort auf das Problem mit gutsituierten Ladendieben könnte sein, auf Selbstbedienungskassen zu verzichten. Die Supermarktkette Booths hat sich bereits dazu entschieden. Die wachsende Armut, die vielen Eigentumsdelikten zugrunde liegt, lässt sich auf diese Weise aber nicht bekämpfen.

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