Offene Grenzen und Sozialstaat
Offene Grenzen und Sozialstaat: Großbritannien will beides
Gegen Arbeitskräftemangel hilft Zuwanderung, aber nicht gegen die Ursachen
Von Andreas Hippin, London
Der Streit um das Thema Zuwanderung hat sich in den vergangenen Wochen in Großbritannien zugespitzt. Der Rücktritt von Robert Jenrick, der als Staatssekretär im Innenministerium für das Thema verantwortlich zeichnete, sorgte zuletzt für eine veritable Regierungskrise. Dabei stand der Umgang mit den Menschen im Vordergrund, die illegal mit kleinen Booten über den Ärmelkanal einreisen. Seit Jahresbeginn kamen weniger als 30.000 auf diesem Wege an, ein Drittel weniger als im vergangenen Jahr. Viele kontinentaleuropäische Regierungen wären froh, wenn sich ihre Migrationszahlen in dieser Größenordnung bewegen würden. Trotzdem sorgt das Thema in Westminster für große Aufregung, hatten die Tories ihren Wählern doch versprochen, dass das Land durch den Brexit die Kontrolle über seine Außengrenzen zurückerlangen würde.
Willkommene Illegale
Dabei ist illegale Zuwanderung eigentlich, wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman 1978 an der University of Chicago einleuchtend erklärte, eine gute Sache. Denn solange sie sich illegal im Land aufhielten, hätten die Zuwanderer keinen Anspruch auf Sozialhilfe und andere Transferleistungen. Sie übernähmen Arbeiten, zu denen die Einheimischen nicht bereit seien. Das verschaffe Arbeitgebern die Arbeitskräfte, die sie sonst nicht bekommen könnten. Für ein Land wie das Vereinigte Königreich, wo die Zahl der offenen Stellen erst vor einigen Monaten wieder unter die Millionenschwelle rutschte und wo allenthalben über Arbeitskräftemangel geklagt wird, gäbe es demnach keinen Grund zur Sorge.
Legale Zuwanderung nimmt rasant zu
Doch seit 2021 hat in Großbritannien die legale Zuwanderung rasant zugenommen. Und dabei handelt es sich Friedman zufolge um etwas völlig anderes. Wenn jeder Anspruch auf einen Teil des Topfs bekomme, aus dem die Sozialleistungen verteilt werden, bedeuteten offene Grenzen, dass alle weniger bekämen. Die logische Konsequenz daraus ist, dass offene Grenzen und ein großzügiges Sozialsystem zusammen nicht zu haben sind.
Kranken- und Altenpfleger gefragt
Doch Großbritannien will beides. Wie das Statistikamt ONS mitteilte, belief sich die Nettozuwanderung in den zwölf Monaten per Ende Juni auf 672.000 Menschen. Die in Großbritannien geborene Erwerbsbevölkerung stagniert dagegen seit vielen Jahren. Die Behörde nennt mehrere Gründe für die starke Zunahme der Zuwanderung seit Wirksamwerden des EU-Austritts, darunter die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine und das Angebot des ehemaligen Premierministers Boris Johnson an Bewohner der ehemaligen Kronkolonie Hongkong, sich im Vereinigten Königreich niederzulassen. Zuletzt seien vor allem Menschen mit Arbeitserlaubnis für Tätigkeiten in der Kranken- und Altenpflege eingereist.
Studierende tauchen ab
Die größte Gruppe seien aber immer noch Studierende. Dabei handelt es sich allerdings nicht mehrheitlich um die Sprösslinge von Diktatoren und Oligarchen, denen noch ein Abschluss einer britischen Eliteuniversität fehlt. Viele haben sich an eher fragwürdigen Bildungseinrichtungen eingeschrieben und tauchen nach Ablauf ihres Visums ab, um arbeiten zu gehen. Solange das so bleibt, gibt es für die Regierenden keinen Grund, etwas dagegen zu unternehmen, dass sich immer mehr Briten vom Arbeitsmarkt verabschieden, oder dafür zu sorgen, dass mehr Einheimische eine Berufsausbildung erhalten.
Jenseits der Statistik
Wie der "Spectator" ermittelte, leben 5,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter von staatlichen Transferleistungen, ohne in der Arbeitslosenstatistik aufzutauchen. Davon sind 2,8 Millionen krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Bis Ende des Jahrzehnts dürfte ihre Zahl auf 3,4 Millionen steigen. Unter ihnen befinden sich viele psychisch Kranke. Andere leiden unter unterschiedlichen Formen von Long Covid. Für viele wäre es vielleicht erfüllender, einer für sie geeigneten Arbeit nachzugehen, als am Stadtrand in einer Sozialwohnung vor sich hin zu vegetieren. Teilzeit könnte eine Alternative sein. Viele Tätigkeiten lassen sich mittlerweile auch von zu Hause ausüben. Doch für die Sozialverwaltung ist es einfacher, diese Menschen einfach mit Sozialhilfe abzuspeisen, als ihre Arbeitsunfähigkeit regelmäßig zu überprüfen.
Großstädte als Brennpunkte
Berücksichtigt man die aus der Statistik gefallenen Menschen, lebt in Großstädten wie Birmingham, Glasgow oder Liverpool ein Fünftel der Bevölkerung von Sozialleistungen, in Städten wie Blackpool ein Viertel. Während der Regierungszeit von Margaret Thatcher, die von großen sozialen Umwälzungen geprägt war, hätte man solche Zahlen als skandalös empfunden. Doch einen Rückbau des ausufernden Sozialstaats zu fordern käme dem politischen Selbstmord gleich. Als Arbeitsminister Mel Stride ankündigte, etwas gegen die explosionsartige Zunahme der Arbeitsunfähigkeit tun zu wollen, wurde das von der Opposition sogleich als kaltherzige Attacke auf Leute gewertet, die zu krank sind, um zu arbeiten. Mit endlosen Rechtsstreitigkeiten ist zu rechnen. Bei den Wählern lässt sich damit nicht punkten.
Und die Zuwanderung bietet die Chance, darüber hinwegzusehen, dass so viele Menschen nicht erwerbstätig sind. Zudem muss man keine attraktiveren Arbeitsbedingungen schaffen oder höheren Löhne zahlen, um offene Stellen besetzen zu können.
Lange Vorgeschichte
Der Streit um das Thema hat eine lange Vorgeschichte: Nachdem 2004 der freie Zugang zum Arbeitsmarkt für Bürger aus der EU vereinbart wurde, gingen die Ausgaben für die Qualifizierung der Belegschaften um ein Fünftel zurück. Nicht nur windige Taxiunternehmer und Spediteure nutzten die schier unbegrenzten Möglichkeiten des europäischen Binnenmarkts. Auch öffentliche Arbeitgeber wie das staatliche Gesundheitswesen NHS (National Health Service) holten lieber Krankenschwestern aus Portugal und Ärzte aus Ländern, die sie nötiger hätten, als selbst in großem Stil auszubilden. Die immer wieder beklagte niedrige Produktivität in Großbritannien erklärt sich zum Teil daraus, dass es für die Firmen stets billiger war, Niedriglöhner aus dem Ausland in ihre Belegschaften zu holen, als in die Automatisierung zu investieren.
Im Votum für den EU-Austritt machte sich der Ärger darüber Luft, dass die öffentliche Infrastruktur, egal ob Schulen, Krankenhäuser oder Verkehrsmittel, mit dem Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung nicht Schritt gehalten hatten. Es richtete sich nicht gegen die Menschen, die eingewandert waren. Doch wurde seither nicht in großem Stil in die Infrastruktur investiert. Dafür kamen zuletzt mehr als doppelt so viele Menschen neu ins Land als zur Regierungszeit David Camerons, der die Zahl der Zuwanderer auf "Zehntausende" reduzieren wollte, aber keine großen Anstrengungen in diese Richtung unternahm. Sie kommen zudem aus außereuropäischen Kulturen, was ihre Integration nicht so einfach macht wie die der Bürger der Armutsregionen Süd- und Osteuropas.
Dabei sind die Briten eigentlich gut darin, Neuankömmlinge aufzunehmen. Anders als auf dem Kontinent gibt es im Vereinigten Königreich bislang keine ausländerfeindliche Rechtspartei, die Stimmen in nennenswertem Umfang einsammeln könnte. Es kommt auch nicht zu Unruhen wie in Dublin, wenn jemand mit Migrationshintergrund eine Gewalttat verübt. Doch für die Wähler der Tories ist Zuwanderung bereits Wahlkampfthema Nummer 1. Die Reform des Sozialstaats wird sich nicht mehr lange hinausschieben lassen, egal wer nach den herannahenden Unterhauswahlen das Land regiert.